Am Tag nach der Europawahl steht auch für die deutschen Kleinparteien fest, welche von ihnen einen oder sogar mehrere Sitze im Europaparlament errungen haben. Hier fällt auf: Vor allem die dezidiert europafreundliche Volt-Partei konnte ihr Ergebnis deutlich verbessern, sie steigerte sich im Vergleich zur letzten Europawahl von 0,7 auf 2,6 Prozent und zieht nun mit drei statt bisher einem Abgeordneten ins Parlament ein.
Mit diesem Erfolg im Rücken strebt Volt nun auch in den Bundestag. „Parteien sind in einer Demokratie dafür da, um bei Wahlen anzutreten“, sagte Spitzenkandidat Damian Boeselager am Sonntagabend dem Berliner Tagesspiegel, „das gilt auch für die nächste Bundestagswahl.“ Die Partei versteht sich als progressiv und proeuropäisch und warb im Wahlkampf für ein Europa als Bundesstaat mit eigenen Parteien und eigener Regierung, für die Abschaffung des nationalen Vetorechts, einen EU-weiten Kohleausstieg bis 2035 und sichere Fluchtrouten für Asylbewerber.
Auch die Freien Wähler verzeichneten Zugewinne: Sie kamen von 2,2 Prozent im Jahr 2019 jetzt auf 2,7 Prozent. Damit erhalten sie im neuen Parlament einen dritten Sitz. „Nach obenhin ist natürlich immer Luft, aber ich bin ja schon froh, dass wir nicht verloren haben“, sagte der Parteivorsitzende Hubert Aiwanger am Sonntagabend im Bayerischen Rundfunk. „Viele andere müssen Wunden lecken. Wir können feiern.“
„Partei des Fortschritts“ neu im Europaparlament
Die Freien Wähler verstehen sich als „pragmatisch und ideologiefrei“, betonen die europäische Wertegemeinschaft und wollen Eigenverantwortung, bürgerschaftliches Engagement sowie die vielfältige Gesellschaft fördern.
Neu ins Parlament kommt die „Partei des Fortschritts“ (PdF), die 2020 in Köln gegründet wurde. Sie hat nach eigenen Angaben 230 Mitglieder im Bundesverband und lehnt die politische Einteilung in linke und rechte Parteien ab (wird aber selbst von der Bundeszentrale für politische Bildung als links-liberal eingestuft). Die PdF will die Spaltung der Gesellschaft durch mehr basisdemokratische Elemente überwinden, zum Beispiel durch eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Asylverfahren sollen außerhalb Europas, aber „ohne Lagerhaft“ stattfinden, die Polizeibehörde Europol soll ausgebaut, die Grenzschutzagentur Frontex reformiert und eine europäische Armee aufgebaut werden. Regenerative Energien will die Partei sukzessive ausbauen, Atomenergie lehnt sie ab. Künstliche Intelligenz und Digitalisierung sollen nach ihrem Willen der Wirtschaft neuen Schwung verleihen.
Vier Kleinparteien wieder mit einem Abgeordneten
Vier weitere Kleinparteien konnten ihr Ergebnis in etwa halten und ziehen wieder mit jeweils einem Abgeordneten ins Europaparlament ein: Die 2004 gegründete Satirepartei „Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“ des Titanic-Redakteurs Martin Sonneborn, die schon seit 2014 im Europaparlament vertreten ist und fraktionslos blieb, die christlich orientierte Familien-Partei Deutschlands (FAM), die sich der EVP-Fraktion angeschlossen hat, sowie die 1993 gegründete Tierschutzpartei „Mensch Umwelt Tierschutz“ und die Naturschutzpartei „Ökologisch-demokratische Partei“.
Die christlich orientierte Familien-Partei Deutschlands wurde 1981 von einer bayerischen Hausfrau gegründet, die damals forderte, Mütter für ihre Kindererziehung und Familienarbeit zu bezahlen. Auch heute noch wendet sie sich gegen die „politisch bedingte Ausnutzung der Kindererziehenden in allen Lebensbereichen und gegen die Aushöhlung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen“. 2014 trat sie erstmals bei der Europawahl an und erlangte wie auch 2019 jeweils ein Mandat. Sie hat Landesverbände in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Thüringen und im Saarland. Im EU-Wahlprogramm forderte sie unter anderem ein Wahlrecht ab der Geburt, ein sozialversicherungspflichtiges Erziehungsgehalt in Höhe des Mindestlohns, ein europaweites Kindergeld neben dem nationalen Kindergeld und eine fondsfinanzierte europäische Rente.
Vielfältige Parteienlandschaft durch Urteil aus Karlsruhe
Die 1993 gegründete Tierschutzpartei nimmt für sich in Anspruch, sich als einzige Partei konsequent für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Tierrechte einzusetzen. Sie wirbt für ein europaweites Jagdverbot, ein Ende der Massentierhaltung sowie von Tiertransporten und Tierversuchen, ein Verbot von Pelzherstellung und für einen EU-Kommissar für Tierrechte. Des weiteren fordert sie einen kompletten Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und die Verwendung biologisch abbaubarer Produkte sowie in der Asylpolitik eine aktive Seenotrettung und die Wahrung des individuellen Asylrechts.
Die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) hatte sich in der letzten Legislatur der grünen Fraktion „Europäische Freie Allianz“ angeschlossen und zieht auch jetzt wieder mit einer Abgeordneten ins Europäische Parament ein. Sie verbindet wertkonservative Naturschutz – und Familienanliegen und sitzt ebenfalls schon seit 2014 im Europäischen Parlament. Die Piratenpartei hat es dagegen nicht wieder ins Parlament geschafft. Auch das „Bündnis Deutschland“ verliert seinen Sitz, den es 2019 noch auf der AfD-Liste gewonnen hatte.
Welche Partei einen Sitz erhält, ist variabel und hängt von mehreren Faktoren ab, unter anderem von der Wahlbeteiligung und der Zahl der zugelassenen Parteien.
In etlichen EU-Staaten gibt es schon eine Sperrklausel. In Deutschland wurde eine solche 2011 und 2014 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunächst verworfen. Das EU-Parlament sei auch arbeitsfähig, wenn dort lauter Kleinparteien vertreten seien, eine zwingende rechtliche Vorgabe fehle, befanden die Karlsruher Richter. Um diese rechtliche Vorgabe zu schaffen, strebte die Bundesregierung eine Änderung des EU-Wahlakts an, die 2018 beschlossen wurde, aber noch nicht in Kraft ist. Alle Staaten haben sie ratifiziert, nur Spanien noch nicht, wo die Sperrklausel strittig ist.
Der Bundestag beschloss im Juni 2023 die Einführung einer Sperrklausel von zwei Prozent für Europawahlen. Das Bundesverfassungsgericht wies im Februar dieses Jahres eine Verfassungsbeschwerde dagegen zurück. Wenn Spanien die Änderung der EU-Wahlaktes vor der Europawahl 2029 ratifiziert, dann gilt in Deutschland fortan eine Zweiprozentsperrklausel.