In den Einkaufsmärkten lachten die Osterhasen bereits im Februar von der Palette, auch die bunten Schokoladeneier liegen dort seit Wochen in den Regalen. Für das Osterfest ist das eine gute Nachricht, denn damit greift die Regel, dass man sich um den Fortbestand von Traditionen keine Sorgen machen muss, solange sie im Discounter vorkommen.
Die gelungene Transformation ins Zeitalter des Konsumismus hat allerdings auch ihren Preis. In der österlichen Mischung aus christlichen und heidnischen Fruchtbarkeitssymbolen gewinnen Letztere zusehends die Oberhand. Ostern verwandelt sich darüber in ein fröhliches Frühlingsfest. Und alle Inhalte, die nicht nach pappsüßem Blätterkrokant schmecken, werden so freundlich, aber resolut in den Hintergrund geschoben.
Dramaturgie des Feiertage
Der kulturelle Verlust dürfte schwerer wiegen als vergleichbare Prozesse rund um Weihnachten. Denn zu Ostern wird nicht nur ein Teilaspekt, sondern der ganze Sinnhorizont des Christentums in den Blick genommen: am Palmsonntag die innerweltlichen Hoffnungen, die sich mit Jesu Einzug in Jerusalem verbanden. An Gründonnerstag die Aspekte der Gemeinschaft und der Ethik, die sich mit dem Abendmahl und der Fußwaschung verbinden. An Karfreitag Leid und Sterblichkeit und an Ostersonntag die überweltlichen Hoffnungen, die mit der Auferstehung Jesu verbunden werden.
Wer sich auf diese Dramaturgie der Feiertage einlässt, und sei es aus einer zögerlichen oder kritischen Distanz, der wird beinahe zwangsläufig darauf stoßen, dass all diese Themen nicht nur eine ferne Vergangenheit oder andere Leute betreffen, sondern auch die eigene Existenz berührt. Auch unabhängig vom Immanuel-Kant-Jahr 2024 ist es kaum vorstellbar, an Karfreitag oder Ostern in einer Kirche zu sitzen und sich in Anbetracht des Gekreuzigten nicht die bekannten vier Fragen des Königsberger Philosophen zu stellen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Entschwinden der Seinsfragen
Vielen, vielleicht sogar den meisten Menschen dürfte es aufgrund des oszillierenden Wahrheitsbewusstseins in der Moderne schwerfallen, ihre Reflexion über solche Fragen auf eine bestimmte Antwort zu fixieren. Das ist der Preis, den der Einzelne für die weltanschauliche Offenheit hoch entwickelter Gesellschaften zahlt. Sollte man daraus die Schlussfolgerung ziehen, besser erst gar nicht nachzudenken? Womöglich lässt sich der menschliche Sinn für das Unendliche mit dem Geschmack von Eierlikör gut betäuben. Warum auch nicht?
Doch auch das allmähliche Entschwinden der Seinsfragen könnte seine Kosten haben. Denn womöglich entschwindet damit auch allmählich das Bewusstsein dafür, wie ephemer und abgründig unser Dasein ist: Aufs Universum bezogen ist man nichts, für sich selbst hingegen alles. Und das Wissen darum, dass dies nicht nur für einen selbst gilt, sondern auch für jede andere Person, ist eine der kräftigsten Wurzeln des Humanismus und verbindet die Menschen aller Zeiten und Gegenden.
Der Mensch ist eher ein Karsamstagswesen
Die Einsicht in die Zerbrechlichkeit des Daseins hilft auch dabei, Probleme in der richtigen Relation zu betrachten. Die merkwürdige Aufgekratztheit in der Gesellschaft hat vielleicht auch damit zu tun, dass zu viel Marzipan und Trüffelcreme im Leben die Sinne vernebelt. Dann schießen Erwartungshaltungen ins Kraut, und Unduldsamkeit greift um sich. Man führt Renten- und Armutsdebatten ohne Bewusstsein dafür, in welch historischem Luxus man gegenwärtig lebt. Klima- und Agrardebatten, in denen renitente Ignoranz die Grundgesetze der Physik oder den weitgehenden wissenschaftlichen Konsens der Biologen aushebelt. Abtreibungsdebatten, in denen der zugrundeliegende moralische Konflikt gar nicht mehr zur Sprache kommt. Identitätsdebatten, in denen die Gegenwart schulmeisterlich über die Vergangenheit zu Gericht sitzt.
Der gemeinsame Nenner solcher Vorgänge ist ein Mangel an Demut und eine stark auf materielle Fragen ausgerichtete Anspruchshaltung. Eine Besinnung auf die Ostererzählung löst diese Verkrampfung nicht wie von Geisterhand auf. Aber sie kräftigt den Sinn für die Conditio humana – also den Wert der Menschenseele auf der einen Seite und die Grenzen der menschlichen Selbstermächtigung auf der anderen Seite. Der Mensch soll sich strebend bemühen, und er kann dadurch auch Großes vollbringen.
Aber bezüglich der wesentlichen Fragen seiner Existenz ist er kein Prometheus, denn er hat sie nicht in der eigenen Hand. Der Mensch ist eher ein Karsamstagswesen. Er sucht seinen Ort zwischen der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit und der Hoffnung auf Rettung und Dauer. Das Osterfest stößt ihn Jahr für Jahr wieder darauf.