Bei den Kommunalwahlen in der Türkei hat die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine schwere Niederlage erlitten. Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) lag nach Auszählung von mehr als zwei Dritteln der Stimmen nicht nur in den fünf größten Städten des Landes uneinholbar vorn. Selbst in einigen bisherigen religiös-konservativen Hochburgen der Regierungspartei AKP in Zentralanatolien entschied sich eine Mehrheit der Wähler für die Opposition. Die Kommunalwahl hat damit das Potential, die politische Landschaft der Türkei umzupflügen.
In Istanbul, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes, sicherte sich der Amtsinhaber Ekrem Imamoğlu von der CHP die Wiederwahl. Knapp sieben Stunden nach Schließung der Wahllokale und nach Auszählung von 96 Prozent der Stimmen reklamierte er den Sieg für sich und dankte allen, die daran mitgewirkt hätten. Sein Wahlerfolg macht Imamoğlu zum Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur in vier Jahren.
Er ist zugleich eine Niederlage für Erdoğan, obwohl dieser nicht auf dem Wahlzettel steht. Der Wahlkampf der AKP war auf den Präsidenten zugeschnitten. Er mobilisierte seinen Staatsapparat, um die für ihn auch symbolisch bedeutende Metropole für seine Partei zurückzuerobern. Der AKP-Kandidat in Istanbul, Murat Kurum, stand in Erdoğans Schatten. Etliche Minister des nationalen Kabinetts machten Wahlkampf für ihn.
Erdoğans gespielt Gleichgültigkeit
Schon in den Tagen vor der Wahl hatten regierungsnahe Medien sich bemüht, möglichen Schaden vom Präsidenten abzuwenden, indem sie die Unterschiede zwischen ihm und der Partei herausstellten. Während die Auszählung lief, verkündete das Präsidialamt, dass der Präsident vier Telefonate mit Staats- und Regierungschefs der Niederlande, Irans, Usbekistans und Kirgistans geführt habe, als gehen ihn die Kommunalwahlen gar nichts an.
In den vergangenen zwei Wochen hatte er allerdings mehr als 30 Wahlkampfveranstaltungen im ganzen Land abgehalten und an jedem Ort die Menschen aufgefordert, ihre Verwandten in Istanbul zu überzeugen, dass sie für den AKP-Kandidaten Murat Kurum wählen sollten. Bei der Stimmabgabe am Sonntag sagte Erdoğan, die Wahl werde eine neue Ära einläuten. Zugleich sagte er, die kurz hintereinander folgenden Wahlen, die Präsidentenwahl im Mai 2023 und nun diese, hätten „unsere Nation und uns erschöpft“.
Große Unzufriedenheit wegen hoher Inflation
Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel sagte, die Wahl sei gut für das Land und die türkische Wirtschaft, „weil sie der Welt zeigt, dass es in der Türkei möglich ist, Regierungen mit demokratischen Mitteln auszutauschen“.
In der Hauptstadt Ankara sicherte sich der amtierende CHP-Bürgermeister Mansur Yavaş die Wiederwahl. Schon vor dem Ende der Auszählung trat er vor Zehntausenden Anhängern auf, die ihn begeistert feierten. „In Ankara haben die Barone der Baufirmen verloren, aber die sechs Millionen Einwohner Ankaras haben gewonnen”, sagte er. Vieler seiner Anhänger sprachen von einem Sieg der Demokratie.
Das Wahlergebnis ist Ausdruck der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die hohe Inflation von rund 67 Prozent. Der Mindestlohn, für den mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung arbeitet, reicht inzwischen nicht einmal mehr aus, um eine Familie gesund zu ernähren, geschweige denn für Miete und Kleidung. Bei der Präsidentenwahl im Mai vergangenen Jahres war die Lage nicht besser. Damals war es Erdoğan aber noch gelungen, seine Wähler zu vertrösten.
Manipulationsvorwürfe überschatten Wahl
Bedenklich aus Sicht der AKP sind auch die Erfolge der Neuen Wohlfahrtspartei. Ihr Vorsitzender Fatih Erbakan ist der Sohn des früheren Erdoğan-Mentors Necmettin Erbakan, der zu den Urvätern der islamistischen Bewegung in der Türkei zählt. Die Partei hatte sich erst kurz vor den Kommunalwahlen aus einem Bündnis mit der AKP losgesagt und spricht die gleichen Wählerschichten an. Erbakan trieb Erdoğan mit Forderungen nach Rentenerhöhungen und eines Abbruchs aller Handelsbeziehungen zu Israel vor sich her. In den bisherigen AKP-Hochburgen Şanlıurfa und Yozgat schien ein Sieg der Neuen Wohlfahrtspartei möglich.
Überschattet wurde die Wahl von Manipulationsvorwürfen. Die kurdische DEM-Partei warf der Regierung vor, Zehntausende Soldaten und Polizisten von außerhalb zum Wählen in mehrheitlich kurdische Gebiete im Südosten des Landes gebracht zu haben. Das Präsidialamt widersprach den Vorwürfen. Die Sicherheitskräfte seien in den jeweiligen Wahlbezirken registriert. Aus Sicherheitsgründen seien sie in Bussen zu den Wahllokalen gefahren worden.
Der CHP-Vorsitzende Özel sprach dagegen von einer „Schande für die Demokratie“. Die Partei habe Dutzende Beschwerden von Soldaten erhalten, die gezwungen worden seien, in den kurdischen Gebieten zu wählen. Viele Kurden sehen sich abermals um ihre Stimmen betrogen. In den vergangenen acht Jahren waren die meisten gewählten kurdischen Bürgermeister unter fadenscheinigen Terrorvorwürfen durch Zwangsverwalter ersetzt worden.