Die Corona-Pandemie ist überwunden, die letzten Schutzmaßnahmen im Frühjahr dieses Jahres ausgelaufen. Dennoch hat der Krankenstand unter den Beschäftigten in Deutschland im ersten Halbjahr 2023 Rekordniveau erreicht. Das vermelden die drei nach Versicherten größten deutschen gesetzlichen Krankenkassen.
Zunächst veröffentlichte die DAK ihre Halbjahresstatistik, nach der der Krankenstand unter ihren Mitgliedern auf 5,5 Prozent gestiegen ist und damit auf den höchsten Wert seit Erhebungsbeginn im Jahr 2013. Durchschnittlich waren jeden Tag 55 von 1000 Beschäftigten krankgeschrieben. Im Vorjahreshalbjahr hatte der Wert noch 4,4 Prozent betragen. Die Hälfte der 2,4 Millionen versicherten Erwerbstätigen habe sich bis Ende Juni mindestens einmal krankgemeldet – ein Wert, der für gewöhnlich erst am Ende eines Jahres erreicht werde.
Kurz darauf vermeldete auch die Techniker Krankenkasse (TK) einen Höchstwert. Ihre Versicherten waren demnach in den ersten sechs Monaten des Jahres durchschnittlich 9,5 Tage lang krankgeschrieben. Im Vorjahr waren es zum selben Zeitpunkt 9,1 Tage gewesen. Im Jahr 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie, waren es noch 7,8 Tage.
Auch bei der Barmer zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, ergab eine Anfrage der F.A.Z: „Wir verzeichnen seit Beginn des Jahres einen erhöhten Krankenstand. Im ersten Halbjahr 2023 gab es rund 1100 Krankmeldungen je 1000 Beschäftigte mit Anspruch auf Krankengeld. Das entspricht einem Zuwachs von rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum“, sagt der Vorstandsvorsitzende Christoph Straub. Vor allem bei Atemwegserkrankungen habe es einen deutlichen Anstieg gegeben. Das zeigen auch die Daten des DAK-Reports.
Ein Grund ist das neue elektronische Meldeverfahren
Eigentlich sinkt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Krankenstand, heißt es von Arbeitsmarktfachleuten. Straub hat für den Umstand, dass dieser jetzt, da die deutsche Wirtschaft in einer Krise steckt, auf solche Rekordwerte steigt, eine Erklärung. „Für die vermehrten Arbeitsunfähigkeitsmeldungen gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist die Einführung des elektronischen Meldeverfahrens, welches die tatsächlichen Krankenstände genauer abbildet“, sagt der Barmer-Chef.
Seit Anfang dieses Jahres rufen Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf elektronischem Wege (eAU) direkt bei den Krankenkassen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab, sobald diese sich krankgemeldet haben. Dadurch werden nun auch kürzere krankheitsbedingte Fehlzeiten von den Krankenkassen erfasst. Bei Fehlzeiten von bis zu drei Tagen waren Beschäftigte bisher nicht verpflichtet, eine vorhandene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch einzureichen. Der Effekt auf die Anzahl der Krankschreibungen lasse sich aber nicht eindeutig quantifizieren, sagt Straub.
Seit der Pandemie lassen sich Menschen länger krankschreiben
Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes glaubt, dass sich die Zahlen zwar in der Hauptsache, aber nicht ausschließlich durch das neue Meldeverfahren erklären lassen. „Ein weiterer Grund ist sicherlich, dass wir im vergangenen Winter einen deutlichen Anstieg von allgemeinen Infekten gesehen haben“. Es handele sich um Nachholeffekte in Folge der aufgehobenen Hygieneschutzmaßnahmen.
Außerdem habe sich der Umgang der Menschen mit Erkältungskrankheiten während der Pandemie verändert, man sei vorsichtiger geworden. Das könne dazu führen, dass Arbeitnehmer sich durchschnittlich länger krankschreiben ließen. Der Umstand, dass prozentual mehr Menschen krankgeschrieben sind, könne wiederum auf den Übermittlungseffekt des neuen Meldeverfahrens zurückzuführen sein.
„Ein weiterer Effekt ist, dass die psychischen Erkrankungen und Rückenschmerz-Erkrankungen nach unserer Erfahrung seit Jahren auf dem Vormarsch sind“, sagt Beier. Das betreffe vor allem Branchen, die unter Fachkräftemangel leiden wie etwa Pflege-, Sozial- und Erziehungsberufe.
In der Pflege ist der Krankenstand besonders hoch
Das legen auch die Daten des DAK-Reports nahe. Laut diesem weist die Berufsgruppe „Nichtmedizinische Gesundheits-, Körperpflege- und Wellnessberufe, Medizintechnik“ mit 7,4 Prozent den höchsten Krankenstand auf. Die Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Bernadette Klapper, sieht das Pflegepersonal in einer Teufelsspirale: „Zum einen gibt es die berufsbedingte Belastung durch Schichtdienst, körperlichen Einsatz und psychisch anspruchsvoller Tätigkeit, dazu verschärft der Fachkräftemangel die Belastungen erheblich durch unsichere Dienstpläne und die hinzukommende moralische Verletzung“ – damit ist das subjektive Empfinden gemeint, den Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen nicht mehr gerecht werden zu können. Die resultierenden Krankheitsausfälle müssten wiederum kompensiert werden, was die Belastung nochmals verstärke.
Der Krankenstand ist laut DAK-Report allerdings nicht nur in den Pflegeberufen gestiegen. Ob Arbeitgeber künftig dauerhaft mehr Ausfalltage ihrer Mitarbeiter kompensieren müssen, ist aber noch nicht abzusehen. „Um an dieser Stelle einen möglichen Trend abzuleiten, ist es noch zu früh“, sagt Barmer-Vorstandschef Straub. Markus Beier vom Hausärzteverband sieht das ähnlich: „Das ist wie ein Blick in die Glaskugel: Wenn wir eine hohe Influenzawelle bekommen, dann kann es im nächsten Jahr ähnlich aussehen. Wenn sie ausbleibt, ist es durchaus möglich, dass das Niveau beim Krankenstand, soweit unabhängig vom Meldeverfahren, wieder abflaut.“
Leise Hoffnung auf einen zeitnahen Rückgang äußerte gegenüber der F.A.Z. Techniker-Vorstandschef Jens Baas: Bei den TK-Versicherten habe es im Juni 2023 schon weniger Krankschreibungen aufgrund von Erkältungskrankheiten gegeben als im Juni des Vorjahres. „Vielleicht sind das erste Zeichen einer rückläufigen Tendenz“, sagt Baas.