Interessenkonflikte – zwischen Räuber und Beute, zwischen Weibchen und Männchen, zwischen Eltern und Nachkommen – gehören zu den wichtigsten Triebkräften der Evolution. In welche Richtung der evolutive Wandel verläuft und welches Gleichgewicht sich einstellt, hängt auch davon ab, wie die Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien abläuft. Diese Kommunikation kann ehrlich und zuverlässig, aber auch Lügnerei und Betrug sein. Ehrlichkeit, Lügen und Täuschung beruhen auf der Benutzung von Signalen – akustischen, visuellen oder olfaktorischen Merkmalen, die sich im Verlauf der Evolution entwickelten, weil sie das Verhalten des Empfängers so ändern, dass es dem Sender des Signals nutzt.
Auch diese Definition deutet an, dass die Interessen von Sender und Empfänger nicht identisch sein müssen – ein eigentlich wohlschmeckender Schmetterling versucht durch seine von tatsächlich giftigen Arten kopierte Warnfärbung, räuberische Vögel abzuschrecken, oder Fischmännchen tarnen sich als Weibchen, um sich der Konkurrenz anderer, stärkerer Männchen zu entziehen, und hoffen, sich so die Befruchtung einiger Eier erschleichen zu können.
Der Brutparasitismus des Kuckucks
In seinem Buch stellt der Biologe Lixing Sun dar, wie weit verbreitet Strategien des Lügens und der Täuschung in der Natur und beim Menschen sind, wie Ehrlichkeit durchgesetzt werden und wie der evolutionäre Wettlauf zwischen Sender und Empfänger für Innovationen und Komplexität sorgen kann. Sun identifiziert zwei grundlegende Prinzipien der Täuschung. Im ersten Fall, dem der Lügner, werden ehrliche Botschaften vorgetäuscht, um eigene Interessen zu befördern. Im zweiten Fall, dem der Betrüger und Täuscher, werden Schwächen im kognitiven System anderer Organismen ausgenutzt.
An zahlreichen Beispielen zeigt der Autor, wie weit verbreitet diese beiden Prinzipien sind. Unehrliche Warnrufe sind ein Beispiel für das erste Prinzip. Vögel warnen beispielsweise ihren Schwarm vorgeblich vor einem nahenden Raubvogel, um ungestörten Zugang zu einer profitablen Nahrungsquelle zu haben. Klassische Beispiele für das zweite Prinzip sind der Brutparasitismus des Kuckucks, der die Tatsache ausnutzt, dass Vögel nie unter starkem Auslesedruck standen, ihre Eier bis in die kleinsten Details identifizieren zu müssen; oder die Schutzmimikry, bei der wohlschmeckende Organismen sich als giftige Arten tarnen und dadurch Fressfeinde abschrecken. Trotzdem profitieren alles in allem Organismen am meisten von ehrlicher Kommunikation. Wie inner- und auch zwischenartliche ehrliche Kommunikation durchgesetzt wird, ist ein weiteres zentrales Thema in Suns Darstellung.
Mit Charme und Schmeichelei
Bei diesem Thema verfährt der Autor allerdings ein wenig einseitig. Seine Darstellung glaubwürdiger und ehrlicher Signale fußt auf einer Theorie, die nach einiger Zeit breiter Akzeptanz in den vergangenen Jahren wieder infrage gestellt wird. Das 1975 von dem israelischen Biologen Amotz Zahavi formulierte Handicap-Prinzip besagt, dass Signale vor allem dann glaubwürdig sind, wenn sie mit einem „handicap“ einhergehen – extravagante Merkmale wie das Pfauenrad können in der Evolution Bestand haben, weil sie signalisieren, dass der Träger des Merkmals trotz der mit ihm einhergehenden Verschwendung an Ressourcen zu überleben vermochte.
Zahavi stellte später eine zweite Hypothese vor, die besagte, dass Männchen ihre auffälligen Merkmale in einem Maße ausprägen, das ihrem körperlichen Zustand entspricht. Solche Signale sind daher keine Ressourcen verschwendenden Übertreibungen, sondern von der Auslese optimierte Merkmale, welche Kosten – wenn überhaupt Kosten entstehen – und Nutzen ausbalancieren. Diese empirisch und theoretisch inzwischen gut belegte Hypothese zeigt, dass Handicaps weitaus seltener sind, als es der Autor annimmt.
Die zweite Hälfte des Buches beschäftigt sich mit Lügen und Täuschung bei Menschen. Der Autor behandelt diese Phänomene mit denselben analytischen Mitteln wie Lug und Trug bei Tieren und Pflanzen. Der berühmte Fall des Betrügers Frank Abagnale und seiner Autobiographie „Catch Me If You Can“ – im Jahr 2002 verfilmt von Steven Spielberg mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle – dient ihm als Aufhänger, um die Macht von Lüge und Täuschung zu behandeln. Auch hier gelten für Sun die beiden Gesetze der Täuschung: Missbrauch von ehrlichen Signalen und Ausnutzen von Lücken und Schwächen im kognitiven System des Opfers. Betrüger wie Abagnale wissen Signale der Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit zu kopieren und mit Charme und Schmeichelei Sympathie für sich zu kreieren.
Leider hat diese als Leitfaden benutzte Geschichte einen Haken. Es stellte sich inzwischen nämlich heraus, dass Abagnale über fast alle seine betrügerischen Abenteuer – als Pilot, als Kinderarzt, als Staatsanwalt, als Soziologieprofessor – gelogen hat. Den größten Teil der Zeit, in der er angeblich als Pilot durch die Welt flog, verbrachte er tatsächlich im Gefängnis. Deshalb ist „Catch Me If You Can“ kein Tatsachenbericht, sondern eine elaborierte, extravagante Lüge über ein Leben voller kleiner, nicht immer erfolgreicher Lügen und Täuschungen.
Suns Buch ist trotzdem lesenswert als ein Kompendium faszinierender Beispiele von Betrug und Täuschung in der Natur. Und es regt zum Nachdenken darüber an, ob und wie sich menschliche, strategisches Denken voraussetzende Praktiken des Täuschens und Lügens als Fortsetzung naturgeschichtlicher Anbahnungen verstehen lassen.
Lixing Sun: „The Liars of Nature and the Nature of Liars“. Cheating and Deception in the Living World. Princeton University Press, Princeton 2023. 288 S., geb., 26,99 €.