Frau Doron, Sie leben in Tel Aviv. Wo erreichen wir Sie gerade?
Jetzt bin ich in meinem Haus. Das hat einen Schutzraum, in den wir uns zurückziehen, wenn der Alarm losgeht. Im Moment schweigen die Sirenen, aber das kann sich jederzeit wieder ändern.
Geht in Tel Aviv noch irgendetwas seinen gewohnten Gang?
Nein, überhaupt nicht – und das bricht mir das Herz. Wir sind eingeschlossen, wir haben Angst, wir sind nicht mehr sicher. Freunde kamen am Morgen, und wir haben gemeinsam geweint. Ich habe Israel in so vielen Aspekten kritisiert, aber ich war mir immer sicher, dass es trotz allem eine sichere Heimat für uns Juden sein kann. Anlässlich dessen, was in den letzten Tagen passiert ist, fürchte ich, dass ich mich geirrt habe. Ich denke an die Diaspora. Ich verliere die Hoffnung, dass Israel meine Heimat sein kann. Wir verlieren unser Land.
Was hat sie über den Terror hinaus zu dieser Ansicht gebracht?
Die Liberalen sind zur Minderheit in Israel geworden. In den letzten Jahren haben die Rechtsaußenparteien und das Parlament Israel in eine völlig falsche Richtung geführt. Es ist heute nicht länger ein israelischer, sondern ein jüdischer Staat. Seit Jahren tobt ein offener Kampf zwischen dem religiösen und dem säkularen Israel – und wir, die Säkularen, verlieren. Wir brauchen einen Staat für die Juden, aber wir können ihn mit den Arabern teilen und sie als Gleichberechtigte anerkennen. Die Rechten wiederum propagieren eine Überlegenheit der Juden. Mit diesen Menschen teile ich eine Heimat, aber unsere Werte unterscheiden sich fundamental. Sie haben unser Land Stück für Stück kaputt gemacht. Das Parlament ist nicht mehr auf unserer Seite, selbst die Armee ist nicht mehr auf unserer Seite, alle Institutionen sind korrupt. Nichts funktioniert mehr. Es ist nur noch die zivile Gesellschaft, die den Krieg organisiert, die Gelder sammelt und Essen an die Soldaten liefert.
Welche Bedeutung hatte der Zeitpunkt des Angriffs am Wochenende aus Ihrer Sicht?
Ich fühle mich an mein Trauma von 1973 erinnert. Damals, vor 50 Jahren, war ich Soldatin und habe viele Freunde verloren, als ich dafür kämpfte, dass das, von dem man mir immer gesagt hatte, es dürfe nie wieder passieren, sich nicht wiederholte. Ich kann es einfach nicht glauben, dass dieser Fehler vor 50 Jahren begangen wurde und sich nun abermals wiederholt.
Wie konnte es dazu kommen?
Die israelische Identität ist gespalten. Auf der einen Seite halten wir uns für die von Gott Auserwählten, und auf der anderen Seite sehen wir uns als Opfer. Aber sowohl Menschen, die sich überlegen fühlen, als auch die Menschen, die sich als Opfer fühlen, sind gefährlich. Sie sehen sich im Recht, zu kämpfen, gewalttätig zu sein und ihr Gegenüber zu vergessen. Aber wenn wir auf die Palästinenser blicken, dann sehen wir sie in der gleichen Rolle. Auch sie fühlen sich gedemütigt durch uns Israelis und zugleich von Gott berufen. Wir haben dieses Chaos gemeinsam angerichtet. In diesem kleinen Land leben zwei Nationen, die mit diesem Selbstverständnis keinen Kompromiss finden können. Hinzu kommt, dass die Anführer beider Seiten Kriminelle sind. Sie wollen vor allem ihre eigene Macht sichern, die Menschen sind ihnen völlig egal.
Der Angriff auf Israel hat mit dem Massaker auf einem Festival nahe der Grenze zu Gaza begonnen. Ausgerechnet 260 feiernde Zivilisten wurden abgeschlachtet.
Wenn Menschen kommen, um zu töten, dann ist es ihnen völlig egal, wer sich ihnen in den Weg stellt. Dann zählen nur Hass, Gewalt und irrationale Gefühle. Ich verstehe nicht, was in Menschen vorgeht, die einander so etwas antun können. Ich weiß nicht, ob sie geplant haben, die Menschen auf einem Festival zu töten. Womöglich waren sie einfach da. Nichts daran ist rational. Aber selbst mit dem Wissen, was dort passiert ist, wünsche ich mir, dass wir eine Lösung finden und das Töten endet. Ich bin müde. Ich bin traurig, und ich bin kaputt. Und ich habe Angst um meine Kinder. Ich bin nicht der jüdische Staat, ich bin nicht das Militär, ich bin nicht mal mehr eine Autorin in diesem Moment. Ich bin eine Mutter, eine Großmutter und eine Ehefrau – und ich kann nicht mehr atmen. Und es tut mir so leid, dass ich meine Kinder hierhergebracht habe in dem Glauben, es könnte ihnen ein sicheres, friedliches Zuhause sein.