Als viele Israelis am Samstagmorgen aufwachten, war ihr Land im Kriegszustand. Die Islamistenorganisation Hamas hatte einen massiven Überraschungsangriff gestartet. Ohne Vorwarnung feuerten die Extremisten am frühen Morgen Tausende Raketen aus dem abgeriegelten von ihnen beherrschten Gazastreifen auf israelische Städte ab. Auch in Jerusalem heulten die Sirenen.
Das israelische Militär teilte wenige Stunden nach Beginn des Raketenbeschusses mit, dass Terroristen auf israelisches Territorium vorgedrungen seien. Ein zunächst nicht verifiziertes Video zeigte offenbar Straßenkämpfe in einem israelischen Ort, und ein anderes einen motorisierten Drachenflieger, bei dem es sich um einen Hamas-Kämpfer gehandelt haben soll.
Ein Sprecher der israelischen Armee sagte gegenüber Journalisten, die Bewaffneten seien „auf dem Landweg, mit Flugdrachen und über See“ nach Israel eingedrungen. Rund um den Gazastreifen seien Kämpfe in Gang. Bewaffnete Palästinenser seien in acht Orte eingedrungen, darunter zwei Militärbasen. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte in einer Videobotschaft aus dem Militärhauptquartier in Tel Aviv: „Bürger Israels, wir sind im Krieg.“
„Wir verstehen, dass dies eine große Sache ist“
Es herrschte Sorge, die israelischen Sicherheitskräfte könnten nicht nur mit Angriffen, sondern auch mit Geiselnahmen konfrontiert sein. Entsprechende Berichte kursierten im Internet. Von Hamas-Anhängern wurden außerdem Videos verbreitet, die jubelnde Bewohner des Gazastreifens zeigten, während palästinensische Kämpfer mit den Leichnamen israelischer Soldaten zurückkehrten. Die israelische Armee wollte diese Berichte vorerst nicht kommentieren. Der Sprecher sagte aber: „Wir verstehen, dass dies eine große Sache ist.“
Hamas-Militärchef Mohammed Deif tönte im hauseigenen Rundfunk, es handele sich um eine „Militäroperation“ deren Codenamen „Flut Aqsa“ auf die symbolträchtige Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem abziele, die immer wieder Gegenstand gewalttätiger Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern ist. „Das ist der Tag der größten Schlacht“, sagte Deif. „Der Feind wird begreifen, dass die Zeit seines Amoklaufs ohne Rechenschaftspflicht vorbei ist.“
Ein Hamas-Funktionär im Westjordanland rief die Palästinenser ebenso auf, zu den Waffen zu greifen. „Wir alle müssen diese Schlacht schlagen“, sagte er. Auch die Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad ist an dem Angriff beteiligt.
„Der Staat Israel wird diesen Krieg gewinnen.“
Der israelische Verteidigungsminister Joav Gallant sagte in im Fernsehen, die Hamas habe „heute Morgen einen schweren Fehler begangen und einen Krieg gegen den Staat Israel begonnen“. Die Streitkräfte würden „an jedem Ort gegen den Feind kämpfen“, sagte er und fügte an: „Der Staat Israel wird diesen Krieg gewinnen.“
Es wurde erwartet, dass der israelische Gegenschlag sehr heftig ausfallen wird. Laut Berichten israelischer Beobachter könnte auf den Überraschungsangriff ein wochenlanger Krieg folgen. Regierungschef Benjamin Netanjahu rief das Sicherheitskabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Die Armee begann, Zehntausende Reservisten zu mobilisieren. Schon am Morgen wurden erste Luftangriffe auf Ziele in Gaza geflogen.
Zunächst war in offiziellen israelischen Berichten nur von einer getöteten Frau und mehr als 120 Verletzten durch die Rakentangriffe die Rede. Aber diese Zahlen dürften schnell steigen, wenn das Chaos, dass mit dem Angriff ausgebrochen war, sich etwas legt.
Aus dem Lager der Protestbewegung gegen die von der Netanjahu-Regierung betriebene hoch umstrittene Justizreform kamen Aufrufe an Reservisten, angesichts der Bedrohung davon abzusehen, den Dienst aus Protest zu verweigern. Der Rettungsdienst Magen David Adom rief zu Blutspenden auf.
Der palästinensische Großangriff weckt Erinnerungen an den Krieg gegen Ägypten von 1973. Seinerzeit war Israel am Jom-Kippur-Feiertag attackiert worden. Dass das Land damals unvorbereitet getroffen wurde, ist bis heute ein Trauma. Auch die jetzige Attacke erfolgte an einem Feiertag, und die Regierung muss sich Fragen gefallen lassen, warum auch dieser Krieg über ein geschocktes, unvorbereitetes Land hereinbricht.
Zumindest die Rhetorik der Israel-Feinde hatte sich zuletzt verschärft. Die mit dem iranischen Regime verbündeten Palästinensergruppen und die libanesische Schiitenorganisation Hizbullah hatten wieder und wieder getönt, der Feind sei durch die inneren Konflikte zerrissen und geschwächt. Sie hatten außerdem ihre Zusammenarbeit verstärkt. In der libanesischen Hauptstadt hatte es in der jüngeren Vergangenheit mehrere Treffen der militanten Palästinenser mit der Hizbullah gegeben, bei denen laut Geheimdienstberichten auch iranische Vertreter zugegen waren.
So stellte sich am Samstagmorgen nicht nur die Frage nach dem Ausmaß eines israelischen Gegenschlages, sondern auch die nach der Ausweitung des Konfliktes an anderen Fronten. An der Grenze zum Libanon hatten die Spannungen und die Provokationen der Hizbullah zuletzt merklich zugenommen. Eigentlich will die irantreue Schiitenorganisation keinen neuen Waffengang mit Israel. Aber es gibt Möglichkeiten Nadelstiche zu setzen, ohne sich zu sehr zu exponieren. Raketenbeschuss aus dem Libanon, zum Beispiel, die anynom oder unter palästinensischem Banner geführt werden.