Geschichte ist Trumpf im neuen Murot-„Tatort“ des Hessischen Rundfunks, der, wie bei einer archäologischen Ausgrabung, Schicht für Schicht Einsicht in das Gewordene der Gegenwart freilegt. Der Frühling sprießt an diesem Ort, scheinbar jenseits der Zeitläufte, mit schönsten Blüten. Die Uhr scheint stehen geblieben im hessischen Fachwerkdorf jenseits des Limes, dort, wo der Naturpark Taunus 2000 Jahre Geschichte präsentiert. Nahebei liegt das Römerkastell Saalburg, im Jahr 90 nach Christus erstmals befestigt. 1897 ließ sich Kaiser Wilhelm II. von Archäologen überzeugen, ein Wiederaufbau könne den Herrschaftsanspruch des Deutschen Reichs in Stein manifestieren. Wilhelm II. und das Römische Reich – das gefiel.
Auf dem Weg nach Neu-Anspach liegt der Hessenpark. Mehr als 100 historische Fachwerkhäuser wurden hier seit 1974 aufgebaut und bilden eine künstlich angelegte dörfliche Struktur. Auch sie sind materielle Zeitzeugen, Stein und Holz als Manifestationen der harten Lebensweisen früherer Jahrhunderte. Heute sind beide Örtlichkeiten Touristenattraktionen, zeigen hier den Traum des deutschen Kaisers von der Weltherrschaft, dort die Fiktion bodenständigen Alltags.
Am Tag der Entscheidung in Nordhessen
Geht es nach „Murot und das 1000-jährige Reich“, der größtenteils im Hessenpark spielt, so fand hier im Frühling des Jahres 1944 der eigentliche D-Day statt, noch bevor am 6. Juni 1944 die Landung der Alliierten in der Normandie begann: „Decision Day“, Tag der Entscheidung, der eigentliche Beginn der Befreiung der Deutschen von der NS-Herrschaft. Das ist freilich Humbug und hat in einem „Tatort“-Krimi nichts zu suchen?
Wer die bisherigen Murot-„Tatorte“ gesehen hat, weiß, was einen erwartet. Zuallerletzt die übliche Whodunit-Dramaturgie. Hat der Kommissar (Ulrich Tukur) nicht gerade in „Murot und das Paradies“ in seinem Traum vom Glück Adolf Hitler erschossen? Im neuen „Tatort“ könnte er wieder den Lauf der Geschichte ändern.
Zeitsprung: Am Flughafen Frankfurt erwarten Murot und seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) ein Flugzeug aus Argentinien. Ein uralter Mann befindet sich an Bord, ihm soll in Frankfurt, Ort der Auschwitz-Prozesse, späte Gerechtigkeit widerfahren. Es geht um ebenjene Ereignisse im Hessendorf im Frühling 1944.
Dort bleiben Oberst Rother (Ulrich Tukur), Sonderermittler Hitlers, und sein schneidiger Adjutant von Strelow (Ludwig Simon) mit Motorschaden liegen. Nahebei stürzt ein britischer Pilot mit seiner Spitfire ab. Rother kümmert es nicht. Er ist nicht nur kriegs-, er ist ideologiemüde. Man nimmt Quartier im Gasthaus. Die Bedienung Else (Barbara Philipp) erkennt Rother als untergetauchte jüdische Ärztin. Ein Philosophieprofessor (Cornelius Obonya), strammer Nazi, verwartet die Zeit bis zum Endsieg beim Schachspielen. Im Wald liegen vier tote deutsche Soldaten, ein fünfter ist schwer verletzt. Schließlich findet sich auch der Pilot tot in der Dorfkapelle, Schuss ins Herz. Rother ermittelt und beobachtet. Etwa die kleine Waltraud (Viola Hinz), deren „Heil Hitler“-Gruß wie aus der Pistole geschossen kommt.
If you're looking for suspense when solving the deaths, you won't find it here. Rother investigates everything. What is irritating in a positive sense lies elsewhere. “One day you will be held accountable for your actions. They disregard all laws,” says Rother to the man who sits on the plane many decades later and, once landed, is scared to death at the sight of the ghosts of the past. The laws of humanity must be meant.
Matthias X. Oberg (director and co-author), Michael Proehl and Dirk Morgenstern (book) and Max Preiss' camera play with a present that should recognize itself as historically warned. They take on right-wing indoctrination and its impact on children and young adults. What Erika Mann said in her non-fiction book “Ten Million Children”, published in America in 1938. “The education of youth in the Third Reich” (“School for Barbarians”). So something that has to concern us today. The topicality of this historical “crime scene” includes the game of exchanging times. In one scene, Rother sings the British mocking song “Hitler has only got one ball” in the inn in 1944, to the melody of the River Kwai March, composed as film music in 1957. Whether Murot is a time traveler, a dreamer or the avenging spirit of this war criminal, be clear here not decided. But one thing is certain: Barbara Philipp plays splendidly here as always.