Die jüngsten Äußerungen des türkischen Präsidenten haben Robert Habecks Reise nach Ankara zu einem diplomatischen Drahtseilakt gemacht. Wenige Stunden bevor der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister am Mittwochabend in Berlin ins Flugzeug stieg, sagte Erdoğan, er betrachte die Hamas „nicht als Terrororganisation, sondern als Freiheitskämpfer”. Zudem stellte er die diplomatische Annäherung seiner Regierung an Israel infrage. „Wir hatten einen Plan, nach Israel zu gehen. Er wurde abgesagt.” Erdoğan bezichtigte Israel der „blutigsten, widerlichsten und brutalsten Angriffe in der Geschichte gegen unschuldige Menschen in Gaza”. Die Rede des Präsidenten vor Abgeordneten seiner Partei ließ die Börsenkurse in Istanbul so stark absacken, dass der Handel zweimal ausgesetzt wurde.
Der deutsche Vizekanzler (Grüne) stellte vor dem Abflug klar, er stimme mit Erdoğans Worten „überhaupt nicht überein“. Die Hamas habe „Israelis abgeschlachtet und jetzt die Verantwortung auf sich geladen, dass dieses ja auch fürchterliche Leid im Gazastreifen passiert“. Zugleich sagte der Minister, in der gegenwärtigen geopolitischen Lage solle die Türkei eine Vermittlerrolle einnehmen. Das werde ein Thema seiner Gespräche am Donnerstag und Freitag sein. Habeck trifft den türkischen Vizepräsidenten Cevdet Yılmaz sowie die Minister für Handel, Finanzen, Umwelt und Energie.
Rätsel um Erdoğans Absichten
Im politischen Ankara wurde am Mittwochabend gerätselt, was der Präsident mit seiner Rede bezweckt haben könnte. Erdoğan ist bekannt für seine erratischen Ausfälle. Der Schaden ist beträchtlich. Erstens konterkariert er damit die Bemühungen seines Finanzministers, das Vertrauen ausländischer Investoren in den türkischen Markt zurückzugewinnen. Zweitens stellt er den von ihm selbst formulierten Anspruch infrage, eine Vermittlerrolle im Nahost-Konflikt einzunehmen, so wie er es, mit einigem Erfolg, zwischen der Ukraine und Russland getan hat. Drittens untergräbt Erdoğan seine Forderung an andere Länder, härter gegen Unterstützer der kurdischen Terrorgruppe PKK vorzugehen.
Der Präsident hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er der Hamas und anderen Muslimbrüdern ideologisch nahesteht. Ihre Funktionäre waren in der Türkei lange willkommen. Dennoch hatte er sich nach dem Hamas-Überfall auf Israel für seine Verhältnisse zunächst gemäßigt geäußert. Der Ton änderte sich nach dem Beschuss des Al-Ahli-Krankenhauses, für den Erdoğan ohne Belege Israel verantwortlich machte. Am Samstag will er an einer „Großen Palästina-Demonstration” in Istanbul teilnehmen, zusammen mit den Spitzen aller Koalitionspartner.
Die öffentliche Meinung hat ihn dazu wohl nicht getrieben. In einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage des Instituts Metropoll unter 1691 Personen sprachen sich nur 11 Prozent dafür aus, dass die Türkei sich hinter die Hamas stellen solle. 35 Prozent waren der Meinung, die Türkei solle sich neutral verhalten. 19 Prozent forderten eine Distanzierung von der Hamas.
Möglicherweise ging es Erdoğan darum, die rechte Flanke zu schließen. Der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, Devlet Bahçeli, hatte verlangt, die Türkei müsse intervenieren, um die israelische Offensive in Gaza zu stoppen. Der frühere Außenminister und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hatte Bahçeli beigepflichtet, beide hatten sich zu einem Gespräch verabredet. Vielleicht witterte Erdoğan einen Komplott. Seine Äußerungen zum Gazakrieg waren offenbar nicht für das ausländische Publikum gedacht. Der englischsprachige Kanal des Staatssenders TRT blendete vorher aus.
Habecks diplomatischer Drahtseilakt
Erdoğans Worte dürften den Besuch des deutschen Vizekanzlers überschatten, auch wenn Habeck den Präsidenten gar nicht trifft. Dabei hatte sich die türkische Regierung auf Arbeitsebene zuletzt betont kooperativ gegeben, etwa in der Frage von Handelshemmnissen, die wohl auch der Bundeswirtschaftsminister ansprechen wird. Für die Türkei geht es darum, positive Signale zu senden, bevor die Europäische Kommission im November ihren Sonderbericht zu den EU-Türkei-Beziehungen vorlegt. Der Bericht könnte Einfluss darauf haben, ob es Bewegung bei jenen beiden Themen gibt, die der Türkei am Herzen liegen: Visaerleichterungen für Geschäftsleute und Studenten sowie eine Ausweitung der Zollunion auf Dienstleistungen und Landwirtschaft. An eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche glaubt keine Seite.
Potentiale für Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Deutschland gibt es im Energiesektor. Die Türkei hat ein Interesse daran, ihre Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern, für die sie im vergangenen Jahr 90 Milliarden Dollar aufbringen musste. Die meisten Öl- und Gasimporte kommen aus Russland. In der Wirtschaftsdelegation, die den Minister begleitet, sind unter anderem Anbieter von Windturbinen.
Vor seiner Abreise kündigte Habeck an, in Ankara auch das Thema Subventionsumgehungen ansprechen zu wollen, wegen denen die Türkei schon länger in der Kritik steht. Im Handel mit Russland sind die Exporte einiger Produkte, die für die russische Kriegsmaschinerie wichtig sind, deutlich angestiegen. Zum Beispiel Halbleitern. Zudem ist die Zahl der russischen Firmengründungen in der Türkei im vergangenen Jahr um 670 Prozent gestiegen.