„10 000 Gesten“ hieß ein Stück von Boris Charmatz, in dem 23 Tänzer angeblich keine Bewegung zweimal ausführten. Wer jetzt staunt, muss sich fragen lassen, wie das wohl zu überprüfen wäre. Oder ob es dann viel zu nennen wäre, wenn jeder wirklich seine individuellen, unwiederholbar eigenen 434,8 Gesten vorführen könnte.
Natürlich handelt es sich bei diesem choreographischen Arrangement seinerseits um eine Geste, eine soziale Geste, eine Behauptung, eine Setzung. Es geht vielleicht um die Selbstinszenierung als Künstler-Intellektueller, der das Feld des Tanzes abschreitet und seine Signatur darauf setzt. Eine sehr männliche Geste könnte das der aktuelle gesellschaftliche Diskurs nennen. Charmatz findet augenscheinlich Gefallen daran, Ideen in Besitz zu nehmen. Oft sind es nicht genuin eigene, denn er ist kein Choreograph in dem Sinne des Bewegungserfindens wie Noé Soulier, Kyle Abraham, Adam Linder oder Trajal Harrell.
Charmatz erzeugt eher Reminiszenzen. Er kontextualisiert neu, fügt etwas hinzu oder nimmt etwas weg. An den Namen Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hat er als neuer Direktor den eigenen gehängt, Terrain Boris Charmatz. Charmatz-Gebiet ist es jetzt, das Tanztheater Wuppertal, und wieder ein bisschen mehr seit der neuesten Premiere, „Club Amour“: Ein dreiteiliger Abend, der zwei auf der Opernhaus-Bühne hinter dem geschlossenen Eisernen Vorhang gezeigte Aufführungen von Charmatz enthält und eine Neueinstudierung von Pina Bauschs Klassiker von 1978, „Café Müller.“
Die eine ist historisch, der andere ist es nicht
Die beiden Inszenierungen von Charmatz sind keine neuen Werke, das Trio „Aatt enen tionon“, das auf einem Gerüst mit drei Spielebenen zwei Männer und eine Frau auf je einer Etage agieren lässt, ist von 1996. Das von Charmatz mit Johanna-Elisa Lemke getanzte „herses, duo“ ist ein Auszug aus einem Stück von 1997. Pina Bausch ist historisch? Das kann Boris Charmatz auch.
Das Trio auf dem Gerüst tanzt seine Gesten mit nackten Unterkörpern und in weißen T-Shirts, als hätte man von George Balanchines beliebtestem Männerkostüm die Beintrikots weggenommen. Das Publikum muss stehen und hochschauen, es ist ihm noch Abstand zu den Körpern mit ihren bewegten primären Geschlechtsteilen und Schamhaarfrisuren gestattet. Das ist im anschließenden Duett ganz anders. Manche Zuschauer haben es bereut, sich auf den Boden gesetzt zu haben, und konnten kaum schnell genug wegrücken, da lag schon der nackte Tanzchef zwanzig Zentimeter vor ihnen. Dann rollte er sich unter seiner Partnerin hinweg, bevor sie über seinem Gesicht hockte und sich dann wieder auf ihn legte, und so weiter.
Pina Bauschs Kostüme legten tanzend mitunter plötzlich die Brüste von Tänzerinnen frei, ein Bild für das innere Verlangen nach Befreiung. Charmatz’ Nacktheit heißt gar nichts, sie ist das Klischee von freiem Tanz, kein heroischer Akt, sondern eigentlich eine sinnlose Zumutung. Nacktheit bedeutet hier nicht Intimität, nicht Wahrheit, nicht Enthüllung, nur die Abwesenheit von Scham. Bausch ist historisch, aber Charmatz ist nur Neunzigerjahre. Er ruft „Konzept“ wie Jérôme Bel, er singt und summt und spielt Rockmusik wie Anne Teresa De Keersmaeker, er turnt nackt vor den Füßen der Wuppertalerinnen wie Florentina Holzinger. Charmatz ist kein Choreograph, er ist ein Choreographen-Darsteller. In die Rolle von Pina Bausch in „Café Müller“ hat er sich dann aber doch nicht begeben. Statt seiner brilliert in ihr die brasilianische Transfrau Naomi Brito, und sie macht es hinreißend. Sie liebt es, und sie versteht es, und sie kann es. Charmatz ist nicht das Ende von Wuppertal, aber er muss aufpassen, dass es nicht sein Waterloo wird.