Präsident Wladimir Putins wichtigster innenpolitischer Gegner wusste schon vor dem jüngsten Urteil, was ihn erwartet. Es werde eine lange Haftstrafe, schrieb Alexej Nawalnyj am Donnerstag in einem über seine Website und soziale Medien verbreiteten Post. Eine Haftstrafe, die man „stalinistisch“ nenne. Nawalnyj vermutete angesichts der Forderung der Anklage, ihn wegen „Extremismus“ 20 Jahre in einer Strafkolonie „besonderen Regimes“ einzusperren, es würden 18 Jahre werden. Das habe aber kaum Bedeutung, da ihm noch ein Prozess wegen „Terrorismus“ bevorstehe.
Die Urteilsverkündung war für Freitagnachmittag anberaumt, mitten in der Ferienzeit. Bei aller Eskalation in der Verfolgung Nawalnyjs konnte man darin eine Kontinuität erkennen. Schon vor der Ausweitung der Repression gegen Putins Gegner im Ukrainekrieg waren Schritte gegen Nawalnyj auf periphere Zeiten gelegt worden. Das spiegelte den Umstand, dass der heute 47 Jahre alte Kämpfer gegen Korruption der einzige Oppositionelle war, der es vermochte, viele und auch junge Russen zu mobilisieren. Größere Proteste gab es noch nach seiner Festnahme vor zweieinhalb Jahren. Nawalnyj war davor im August 2020 in Deutschland wegen der Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok behandelt worden, aber in die Heimat zurückgekehrt, um seinen politischen Kampf gegen Putin fortzusetzen.
Die Prozesse, die seither gegen ihn geführt werden, kreisen um immer härtere Vorwürfe. Erst ging es um einen angeblichen Verstoß gegen Bewährungsauflagen in einem alten, auch schon als politisch geltenden Urteil. Im März vorigen Jahres wurde er dann wegen angeblichen „Betrugs“ und „Missachtung des Gerichts“ zu neun Jahren Haft verurteilt und bald danach in jene Strafkolonie „strengen Regimes“ verlegt, in der nun der aktuelle Prozess stattfand: die „Besserungskolonie“ IK-6 im Dorf Melechowo fünf Autostunden östlich der Hauptstadt. Worin der „Extremismus“ bestehen soll, wird nicht bekannt gegeben. Schon das Verfahren, mit dem Nawalnyjs Strukturen in Russland vor zwei Jahren entsprechend verboten wurden, unterlag der Geheimhaltung.
Verfahren ohne Öffentlichkeit
Längst werden in Russland gebliebene Mitstreiter Nawalnyjs zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, ebenfalls in geheimen Verfahren. Exilierte Unterstützer Nawalnyjs veröffentlichten am Freitag Auszüge aus den Anklagedokumenten. Diese bestehen demnach vor allem aus Ausdrucken von Internetseiten. Außerdem hoben die Unterstützer unter Berufung auf Verbindungsdaten hervor, dass Richter Andrej Suworow sich vor und im Prozess ständig mit einem Agenten einer „Abteilung zum Schutz der Verfassungsordnung“ des Geheimdiensts FSB ausgetauscht hat – just jener, der sie den Giftanschlag zugeordnet hatten.
Die Machthaber taten alles, um möglichst wenig aus dem Prozess nach außen dringen zu lassen. Journalisten, die nach Melechowo gereist waren, sahen zu Beginn des Verfahrens im Juni eine kaum verständliche Videoübertragung aus einem anderen Raum der Strafkolonie. Die brach bald ab, weil Richter Suworow die Öffentlichkeit „aus Sicherheitsgründen“ ausschloss. Am Freitagnachmittag gab es dann eine sehr kurze Übertragung der Urteilsverkündung. Doch deren Qualität war so schlecht, dass zunächst unklar blieb, welche Strafen gegen Nawalnyj und seinen Mitangeklagten, Daniel Cholodnyj, verhängt wurden.
Manche wollen gehört haben, dass Nawalnyj 19 Jahre in einer Strafkolonie „besonderen Regimes“ absitzen soll. Wann es eine Pressemitteilung des Gerichts geben würde, war unklar. Doch auch Staatsnachrichtenagenturen schrieben von 19 Jahren Haft gegen Nawalnyj. Die Strafe gegen Cholodnyj, einen Mittzwanziger, der für ein Youtube-Programm des Oppositionellen gearbeitet hatte, blieb zunächst gänzlich unklar. Die Anklage hatte gegen ihn zehn Jahre Haft gefordert.
Nawalnyj lächelt
Die Heimlichkeit hat einen Grund: Nawalnyj ist zwar in der Haft abgemagert, wird ständig in den Karzer gesperrt, dort mit ungewaschenen und wild schreienden Zellennachbarn gehalten, laut seinen Mitstreitern mit dem Ziel, ihm jede Lebensfreude zu nehmen. Doch wirkt er ungebrochen und nutzt jeden Auftritt, um gegen Korruption, Putin und den Krieg zu wettern. Nawalnyjs Mitstreiter sehen die Öffentlichkeit, die sie erzeugen, indem sie seine Äußerungen verbreiten, als Lebensversicherung: Werde er vergessen, werde es noch schlimmer.
Im Beitrag vor der Urteilsverkündung hebt Nawalnyj hervor, Strafen wie seine sollten einschüchtern, „euch, nicht mich“. Indem Putin Hunderte einsperre, wolle er Millionen einschüchtern, jene „aktivsten“ zehn Prozent der Bevölkerung, die in diktatorischen Regimen den Wandel bewirkten. Jeder müsse sich fragen, was er tun könne, um „die Schurken und Diebe im Kreml davon abzuhalten, mein Land und meine Zukunft zu zerstören“.
Zudem dankte Nawalnyj seinen Unterstützern, den Anwälten und Zeugen der Verteidigung; unter Letzteren waren weitere Gefangene wie die Politiker Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin. Besonders lobte er seinen Mitangeklagten: Cholodnyj sei Freiheit versprochen worden, sollte er „gegen alle“ aussagen. Doch lasse er sich nicht einschüchtern. „Seid genauso“, schloss Nawalnyj. Am Freitag war auf den trüben Bildern aus Melechowo zu sehen, wie Nawalnyj kurz vor der Urteilsverkündung in Häftlingskluft lächelnd auf Cholodnyj zugeht und ihm die Hand reicht.