Norwegen, du hast es gut. Wo sonst als in einem Land mit rund 1700 Milliarden Euro Staatsfondsvermögen werden derzeit noch neue Museen eröffnet mit 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche und einer Kollektion von Louise Bourgeois und Edvard Munch (mit je eigenen Räumen) via Simon Leighs goldner „Sphinx“ auf Nissenhüttenblech-Leib bis zu Andy Warhols „Mao“, die sich aus öffentlichen und privaten Sammlungen und insbesondere jener des Ehepaars Monica und Ole Reitan speist. Die Rede ist von dem dieses Wochenende eröffneten PoMo im nordnorwegischen Trondheim, das lautmalerisch wie inhaltlich von dem Wortspiel „Posten Moderne“ (norwegisch für „Moderne Post“) und Postmoderne zehrt, da es im alten und innerhalb nur zweier Jahre für Museumszwecke umgebauten Hauptpostamt der Stadt residiert und neben einer postmodernen Grundeinstellung auch mit passender Eröffnungsausstellung seinen Einstand feiert: „Postkarten in die Zukunft“.
Das Schicken von Post in die Zukunft ist natürlich nicht möglich, und dennoch behält sich das PoMo dieses Recht auf träumerische Utopie vor. Norwegen ist eine Konsensgesellschaft, sodass mit den nun jährlich zweimal wechselnden Sammlungsschauen Kunst-Briefe als niedrigschwelliges Angebot an alle und vor allem jetzt noch kindliche Besucher ins Futur geschickt werden, die dem Museum dann künftig – so die Hoffnung – die Treue halten werden. Auch pragmatisch arbeitet man an der Zukunft: Aktuell sind vierzig Prozent der ausgestellten Künstler Frauen, künftig sollen es sechzig sein: Neben Sandra Mujinga, Isa Genzken, Anne Imhof und Simone Leigh hat etwa auch Louise Bourgeois’ „Arch of Hysteria“ einen eigenen Raum im PoMo.
Verschränkung von Farbe, Raum und Kunst
Üblicherweise würde man nun Architektur und Inhalt der Museumsräume strikt getrennt beschreiben. In diesem Fall ergibt das jedoch keinen Sinn, weil die für das PoMo ausgewählte französisch-iranische Architektin India Mahdavi (mit Erik Langdalen aus Olso vor Ort) von Los Angeles bis Tokio für ihre integrale Verschränkung von Farbe, Raum und Kunst darin bekannt wurde. Es ist, als rönnen die Regenbogenfarben der monumentalen Leuchtschrift „Our Magic Hour“ von Ugo Rodinone auf dem Dach der Museumspost nach unten in die Räume. Um es kurz zu halten: Das Konzept geht auf, mit zwei gravierenden Ausnahmen: In die von ihrer zarten Paarung aus silbrig salbeigrünen Putzflächen und Granithaustein lebende Jugendstilfassade von 1911 des genialen norwegischen Architekten Karl Norum eine grellrosa Tür einzusetzen, erzeugt Augenschmerz und geht die perfekt ausbalancierte alte Fassade völlig unnötig aggressiv an. Danach muss nur noch der rosafarbene Museumsshop links des Eingangs augenheil überlebt werden, der wirkt, als sei man in einen Laura-Ashley-Laden geraten, und der Besucher ist endlich im Reich der Kunst. Man beginne den Rundgang im multifunktional nutzbaren Kellergeschoss, dessen Pfeiler und Wände in silbrigem Grau gehalten sind und dessen an den Seiten fast zu diskret versteckte Toilettenräume quecksilbrig verflüssigt wirken, indem die tiefen Wandspiegel von einem Künstler mit Kunstharz überzogen wurden, um einen wellig schwingenden Effekt wie alte Barockfensterscheiben zu erzeugen.
Von Stockwerk zu Stockwerk hat die Architektin Mahdavi ansonsten ein Konzept „progressiver“ Farbe entwickelt, je nachdem, welche Kunst dort jeweils ausgestellt ist. Das räumlich großzügige Foyer von mehreren Hundert Quadratmetern mit seiner prämodernen Gliederung der einstigen Schalterhalle nur durch filigrane Stützen (wenngleich die Kapitelle im damaligen „Nation Building“ nach Loslösung von Schweden von den stolzen Stuckköpfen norwegischer Könige und die Pfeilerspiegel von königlichen Posthörnchen geziert werden) bleibt strikt weiß, weil schon die hier präsentierten Großskulpturen des österreichischen Anarchen Franz West wie auch die neongelbe Madonna Katharina Fritschs oder die mintgrünen Ballons Philippe Parrenos unter dem Oberlicht starke Farben einbringen. Eine Wendeltreppe in leuchtendem Orange, das überraschenderweise an warmes Postgelb erinnert und deren Stufen den hellen und im norwegischen Jugendstil häufig zu findenden Terrazzoboden des Foyers fortsetzen, verbindet fließend das Straßenniveau der Eingangshalle mit dem Oben der Ausstellungssäle. In den Räumen selbst können den Kunstgenuss dann nur noch die unfreiwillig dekonstruktivistischen Decken stören, in denen sich wild in nicht weniger als drei Schichten übereinander Sprinkleranlage, mit Lochblechen abgedeckte Kabelschächte und Lüftungsrohre kreuzen.
Sternstunden der Menschheit: Einstein wird gezeugt
Doch nach den Monita zu dem überaus positiven Saldo: Überragend sind die beiden von den Künstlerinnen selbst kuratierten Räume der beiden Deutschen Katharina Fritsch und Anne Imhof. Erstere setzt das Eröffnungsschaumotto „Postkarten in die Zukunft“ direkt um, indem ihre vier annähernd wandfüllenden Riesenpostkarten in Siebziger- und Achtzigerjahrelook („Ibiza“ etwa mit Kitschfeuerwerk und Sfumato-Silhouette von Stadt und Strand) die künftigen Erinnerungen nostalgisch retro bestimmen. Imhof hingegen fängt den Besucher wörtlich ein, spiegelt sich dieser doch nolens volens wider in ihrem auf ein queroblonges Glaspanel aufgebrachten Spinnennetz „Web 5.0“. Und nicht nur kombiniert die Künstlerin dieses spätestens seit ihrer mit Schauspielern gefüllten gläsernen Decke des deutschen Pavillons auf der Venedigbiennale Nähe und Distanz gleichermaßen repräsentierende Vorgehen mit den ausgebauten und graffitiüberzogenen Fensterscheiben eines Achtzigerjahrebaus. Sie fügt dem gläsernen Spinnennetz zusätzlich einen kompletten Satz von Piranesis „Carceri“ hinzu (dem einzig vollständigen in Privathand übrigens). Die sechzehn monumentalen Meisterradierungen des römischen Stadtarchäologen im 18. Jahrhundert sind als „Archäologie des Traums“, wie Norbert Miller sein Buch über die Kerkerbilder treffend taufte, nicht nur Inspiration für viele Surrealisten geworden; sie zeigen auch in ihren M.-C.-Escher-haft verwinkelten Gefängnislabyrinthen und herabhängenden „Netzen“ aus schweren Eisenketten die Verflochtenheit der Menschen (die fast durchgehend in der verquälten Form von Michelangelos „Prigioni“-Gefangenen von dessen Juliusgrabmal zitiert werden) in alten, engen Verhältnissen.
Fischli & Weiss’ immer wieder erheiternde Tonfigurenserie „Plötzlich diese Übersicht“ (1981–2012) verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem so subjektiv wie ironisch Schneisen in die Sternstunden der Menschheitsgeschichte geschlagen werden: Statt Jungfrauenverkündigung liegt da das Ehepaar Einstein nach Zeugung Alberts nicht rauchend, doch erschöpft im Bett, Rumpelstilzchen rumort gegenüber dem rauchenden Atomreaktor „Harrisburg 28. März 1979“, und Kaiser Nero beäugt das brennende Rom.
Neonröhren-Lichtkunst von Robert Irwin
Eigens für das PoMo hat die kongolesisch-norwegische Künstlerin Sandra Mujinga ihre zwei Riesenvögel „Silent Flight“ als Stahlskelette geschweißt und mit textilen Flügeldecken umhüllt, und wüsste man es nicht besser, würde man auch die drei gegenüber der klassisch modernen Neonröhren-Lichtkunst von Robert Irwin wie Polarlichter schimmernden Glas-Paneele mit PVC-Folie an der Wand der Belgierin Ann Veronica Janssens für genau diesen Raum geschaffen halten. Eigens auch wurde für das Treppenhaus in wochenlanger Arbeit von drei Künstlern die Wandzeichnung „Scribbles 6“ von Sol LeWitt repliziert, zigtausendfache Kreise in Graphit, die einen reizvoll metallischen Kontrast zum warmen Orange der Treppe bilden.
Den krönenden Abschluss dieser engen Verschränkung von Museumsarchitektur und Präsentation sorgfältig ausgewählter Kunst bildet der Reading Room, in dem allgemeine kunsthistorische Literatur ebenso geschmökert werden kann wie Fachlektüre zu den gesehenen Künstlern. In angelsächsischen Ländern längst wichtiger Teil vieler Museen, führen diese Räume in Deutschland immer noch ein Schattendasein. In Trondheim aber ist der Lesesaal eine Wonne und Teil der Ausstellung selbst: Über eine kleine Treppe steigt man mit jeder genommenen Stufe immer weiter in unbeschwerte Kindheitszeiten herab; das eingezogene und vollständig ausgemalte Satteldach verleiht den zwei hintereinander liegenden Leseräumen etwas Märchenhaftes, wie ein Hexenhaus mit wohlwollender Hexe, in dem man die Zeit über der Kunstlektüre schnell vergisst. Fünf Maler haben für das Atelier FreelingWaters die Dachschrägen mit einem surreal schönen Ballett aus wie im Rorschachtest angeordneten Stören über aufgeschlagenen Büchern, tanzenden Buchenblättern (dem Baum verdankt schließlich das Buch seinen Namen) und überhaupt der gesamten Flora und Fauna der Region um Trondheim bemalt. Hier erweist sich das Farbkunstkonzept India Mahdavis, das das Haus durchwebt, als schlagend. Die Malereien nehmen subtil das Salbeigrün und Granitgrau der Fassade auf, ebenso wie der silbrig grün verpixelte Teppich, der die quadratischen Platten des Hauptplatzes von Trondheim aufgreift. Ein geeigneterer Ort für das Räsonieren der durchgängig anregenden Kunst dieses Museums scheint kaum denkbar.