Vor wenigen Wochen war Oliver Anthony ein unbekannter Hobby-Sänger, der sich mit schlecht bezahlter Fabrikarbeit durchschlug, sein erwachsenes Leben mit Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch kämpfte und sich nicht mehr als einen Trailer im 7000-Seelen-Städtchen Farmville, Virginia als Wohnort leisten konnte. Seit er aber das Lied „Rich Men North of Richmond“ am 8. August auf Youtube veröffentlichte, gibt es kein Halten mehr. Das Lied steht an der Spitze der Billboard-Charts, vor den Werken der Superstars Taylor Swift, Olivia Rodrigo, Dua Lipa und Luke Combs. Er ist damit der erste Künstler überhaupt, der diesen Spitzenplatz erobern konnte, ohne je zuvor in den Charts gewesen zu sein.
Jetzt wollen alle ein Stück von ihm: Plattenfirmen, Politiker und das Publikum. Das Musikvideo „Rich Men North of Richmond“ wurde bislang 45 Millionen Mal auf You Tube angeguckt. Auf der Bestseller-Liste von iTunes stehen 5 Anthony-Songs auf der Liste der ersten zehn am häufigsten gespielten Apple-Music-Songs. Der rothaarige Sänger hatte zuletzt Auftritte auf einer Farm in North Carolina, deren Videomitschnitte viral gingen, und in seiner Heimatstadt Farmville. Neue Auftrittsdaten sind nicht bestätigt, doch es gibt Gerüchte, dass er auf Musikfestivals in Virginia und Kentucky auftritt, weshalb sich die Veranstalter dort auf einen Besucheransturm einstellen.
Sie fragten Ron DeSantis
Alles wegen eines Liedes, das einen Nerv getroffen hat. Es geht darin um einen Arbeiter, der für einen kargen Lohn Überstunden schiebt, sein Leben als vergeudet ansieht und seine Sorgen betäubt. Es sei eine Schande, was aus dem Land geworden sei, heißt es weiter. Er lebe in einer neuen Welt mit einer alten Seele. Im Refrain greift er Washingtons Elite an, die totale Kontrolle anstrebe, wissen wolle, was jeder denke und tue und jeden endlos besteuern wolle. Er wünsche sich, dass Politiker sich für Bergleute einsetzten statt für Minderjährige auf weit entfernten Inseln. Auf Amerikas Straßen lebten Menschen, die nicht genug zu essen hätten, während fettleibige Mitbürger den Sozialstaat ausbeuteten und sich ihre Schokoladenkekse vom Steuerzahler bezahlen ließen. Gleichzeitig setzten junge Männer ihrem Leben ein Ende, weil die Gesellschaft sie niederdrücke.
Das Lied bietet Anknüpfungspunkte für verschiedene politische Lager, die sich entsprechend darum bemühen, den neuen Superstar in ihre Reihen einzugliedern. Die Linke sympathisiert mit der Ausbeutungskritik, Libertäre teilen die Ablehnung des übergriffigen Staates. Konservative beklagen mit Anthony die degenerierende Wirkung des Sozialstaats und sympathisieren mit den Bibelversen, die der Sänger seinen Konzerten voranzustellen pflegt. Die Rechtspopulisten verurteilen wie der Sänger aus Farmville Engagements in fremden Ländern und solidarisieren sich zudem mit Bergleuten.
Bei der TV-Debatte der republikanischen Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur spielten die Fox-Moderatoren einen Auszug aus dem Song ein und fragten Ron DeSantis, warum das Lied so starke Resonanz in Amerika finde. Der Politiker interpretierte den Song als Attacke auf Präsident Joe Biden. „Das Lied hat nichts mit Joe Biden zu tun“ sagte Anthony in einer Youtube-Botschaft. „Es geht um viel mehr als um Joe Biden.“
Weil er an Depressionen gelitten habe
Dass Fox sein Lied den republikanischen Politikern vorgespielt habe, bringe ihn zum Lachen, sagte Künstler im eigenen Youtube-Beitrag. Das seien schließlich genau die Leute, über die er singe.
Das war auch ein leichter Nasenstüber für rechte Moderatoren, die in Talk-Radios, sozialen Medien und im Fernsehen versucht hatten, den Sänger einzugemeinden. Anthony besteht darauf, politisch in der Mitte zu stehen. Distanz zu politischen Lagern drückt er auch in seiner Musik aus. Ein Lied hat die Zeilen: „Republikaner und Demokraten, ich schwöre, sie sind voller Mist. Ich habe nie einen guten Stadtmenschen-Bürokraten getroffen.“
Der kometenhafte Aufstieg Oliver Anthonys wurde von Spekulationen begleitet, er sei das Subjekt einer ausgefeilten konservativen Kampagne. Der rechtspopulistische Radiomoderator Dan Bongino gehört zu den früheren Förderern, der extrem einflussreiche Podcaster und Moderator Joe Rogan schrieb kurz nach Erscheinen des Songs auf Twitter: “Ich liebe den Song. Man kann Authentizität nicht vorspielen. Und Oliver Anthony hat sie im Überfluss.“ Ein Unternehmer, der sich auf Reichweiten-Marketing in sozialen Medien spezialisiert hat, räumte ein, er habe Anthony auf freiwilliger Basis unentgeltlich unterstützt, nachdem ihn das Lied ergriffen habe.
Anthony selbst betont, dass er auf seine Unabhängigkeit wert lege. Er finde es lästig, dass sich nicht nur Politiker, sondern auch Musiker mit ihm identifizierten und so täten, als ob sie beste Freunde seien. Sie wollten so offenbar Aufmerksamkeit auf sich lenken. Auch kreative Unabhängigkeit nennt er als zentralen Anliegen. Einen Plattenvertrag, der ihm acht Millionen Dollar eingebracht hätte, habe er erst einmal abgelehnt. „Ich möchte keine 6 Tournee-Busse, 15 Lastenanhänger und einen Privatjet. Ich möchte nicht in Stadien spielen und nicht im Rampenlicht stehen“, teilte Anthony mit.
Er habe begonnen, Musik zu schreiben, weil er an Depressionen gelitten habe. Millionen fühlten sich mit diesen Liedern auf tiefe Weise verbunden, weil sie von jemandem gesungen worden seien, der die Worte fühle, die er singe.
Anthony, der sich einst unterbezahlt fühlte, kann es sich leisten, eintrudelnde finanzielle Angebote aller Art in Ruhe zu studieren. Musikexperten rechnen hoch, dass er durch das Herunterladen und Abspielen seiner Songs auf tägliche Einnahmen von 40.000 Dollar kommt.