Im Juni 2018 wählte die Türkei zum ersten Mal einen Staatspräsidenten nach dem neuen Präsidialsystem. Erdoğan wurde der erste Präsident mit geradezu sultansgleichen Befugnissen. Ein paar Tage nach dieser Wahl, die Erdoğan auf den Gipfel seiner Macht brachte und als Zeitenwende in die Geschichte einging, postete der damals frisch in die Leitung der Propagandaeinheit des Palastes berufene Fahrettin Altun auf Twitter: „Eure politische Hegemonie ist zu Ende, eure kulturelle Hegemonie wird ebenfalls enden.“
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Das war keine im Siegesrausch herausgehauene Message. Vielmehr war es die Kampfansage der damals seit 16 Jahren regierenden AKP an das kulturelle Erbe der modernen Türkei, das bis dahin allem Druck widerstanden hatte. Es war der Schwur des Palastregimes, dem es im Laufe seiner Regierungszeit nicht gelungen war, eine eigene Linie in Literatur, Musik und Architektur zu schaffen und Neues an die Stelle dessen zu setzen, was es zerstörte, die Türkei in jeder Hinsicht in Banalität zu ersticken, zu „verkitschen“.
Bülent Mumay
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Bild: privat
Natürlich unternahm die AKP nicht erst 2018 den Versuch, das kulturelle Klima der Türkei zu veröden. Eine von der AKP regierte Kommune etwa hatte eine Statue beseitigt, nachdem Erdoğan sie als „monströs“ bezeichnet hatte. Dieselbe Verwaltung entfernte sämtliche weiblichen Skulpturen aus der Stadt. Ausstellungen wurden verboten, wenn sie auch Aktdarstellungen oder Weinflaschen zeigten. Aufgrund des Drucks gegen Fernsehsender wurden selbst Gläser mit Alkoholika auf dem Bildschirm verpixelt und Videoclips wegen angeblicher Obszönität verboten. Das größte Filmfestival des Landes schloss einen Dokumentarfilm über die Gezi-Proteste 2013 aus. Theatern, die kritische Stücke aufführten, wurde die finanzielle Unterstützung gestrichen, oppositionelle Theaterleute erhielten Berufsverbot. Karikaturisten, die in ihren Werken Kritik übten, wurden mit Haft abgestraft. Etliche Hundert Bücher wurden verboten, Zehntausende Exemplare konfisziert und vernichtet. Die Kompetenzen aber, die das neue System Erdoğan 2018 an die Hand gab, verstärkten das Bestreben des Palastes, seine eigene „kulturelle Hegemonie“ zu errichten, um ein Vielfaches.
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Im neuen System entscheidet Erdoğan mit einem Wort, mit einer einzigen Unterschrift über sämtliche Angelegenheiten im Land, unter seiner Autokratie wurde die Intervention in Kunst und Kultur systematisch. Beinahe jede Woche sind wir mit einem neuen Verbot konfrontiert. Musikfestivals und Konzerte oppositioneller Künstler werden wegen angeblicher Sicherheitsbedenken untersagt. Dem Kulturministerium unterstehende kulturelle Institutionen werden Personen übergeben, die nichts mit Kunst und Kultur zu tun haben. Letzte Woche ernannte Erdoğan beispielsweise den Urheber des Kinderliedprojekts „Opa Tayyip lebe hoch!“ zum Generaldirektor der Abteilung Schöne Künste. Welch „schöne Kunst“, nicht wahr? Und in die Leitung der Staatlichen Theater berief er einen Serienstar aus dem Fernsehen. Vor Jahren war dieser Mann bei der Aufnahmeprüfung für Schauspieler an den Staatlichen Theatern durchgefallen, jetzt wurde er wegen seiner Erdoğan-Treue gleich deren Direktor!