Keine fünf Minuten, da gibt es die ersten Lacher im schmucken Theater Regensburg: „Das zunehmende Chaos wirkt sich im Eisenbahnverkehr ebenso spürbar aus wie sonst überall. Das Funktionieren des täglichen Lebens ist unberechenbar“, sagt Hagelmayer, der Wirt und eigentlich der Erzähler in „Valuschka“, der dreizehnten, noch ganz neuen Oper von Péter Eötvös. Hagelmayer ist offensichtlich einer von uns. Er versteht etwas von der Welt, in der wir leben (müssen).
Der Professor, den Eötvös liebenswürdigerweise so gern Musik von Johann Sebastian Bach hören lässt, versteht auch etwas von dieser Welt, die wir blitzschnell geneigt sind, für die unsere zu halten. Freilich sind seine Einsichten nicht ganz so amüsant: „Die Natur hat ihr normales Funktionieren beendet. Einen Schnee wird es nicht mehr geben. Die Leute reden vom Weltgericht. Das ist überflüssig. Alles geht ohnehin von allein zugrunde.“ Ersetzen wir „Weltgericht“ durch „Letzte Generation“, so sind wir schnell wieder da, von wo wir gern durchs Theater abgeholt werden und wohin wir nicht gar so fix zurückgebracht werden wollen.
„Valuschka“, nach dem Libretto von Kinga Keszthelyi und Mari Mezei, folgt dem 1989 erschienenen Roman „Melancholie des Widerstands“ von László Krasznahorkai, den Béla Tárr vor vierundzwanzig Jahren schon seinem Film „Die Werckmeisterschen Harmonien“ zugrundegelegt hatte. Die Oper ist am 2. Dezember in Budapest uraufgeführt worden, doch Sebastian Ritschel und Stefan Veselka, derzeit Intendant und Generalmusikdirektor am Theater Regensburg, hatten den Wunsch, ein neues Werk von Eötvös etliche hundert Meilen donauaufwärts zur Uraufführung zu bringen. György Buda erstellte eine eigene deutsche Fassung des ursprünglich ungarischen Librettos , und glaubt man Sebastian Ritschel, der auch die Regie für die Regensburger Aufführung übernahm, dann haben ungarische und deutsche Fassung dieser Oper musikalisch nur eine Schnittmenge von „etwa siebzig Prozent“. Das Theater spricht deshalb von einer „Uraufführung“.
Ein Wanderzirkus mit ausgestopftem Blauwal
Der Titelheld János Valuschka trägt die Zeitungen aus in seiner Heimatstadt. Er gilt als „degeneriert“, als „Trottel“. Doch Hagelmayer nennt ihn den „unverdorbenen Valuschka, der inmitten der verheerenden Degeneration die Gegenwart der Engelhaftigkeit beweist“. Valuschka bestaunt die Schönheit der Schöpfung und die Ordnung des Kosmos. Die Bürgermeisterin der Stadt, Frau Tünde, umgarnt ihn, um ihren Mann, den Professor, dafür zu gewinnen, dass er sich als Respektsperson an die Spitze der von ihr gegründeten Bewegung „Es grünt so grün“ stellen möge. Sie will damit wieder „Ordnung“ in der Stadt herstellen.
Einen Wanderzirkus mit einem ausgestopften Blauwal sowie einen mysteriösen „Prinzen“, zwergwüchsig, mit drei Augen, benutzt Frau Tünde, um Unruhe in der Stadt zu schüren, das Militär zu stationieren und eine Diktatur zu errichten, die wenig kommod wirkt. Valuschka wird als Verursacher der Unruhen ausgemacht und als nicht schuldfähig in eine Irrenanstalt gesteckt. Dem Professor, der ihn dort besucht, gibt er keine Antworten mehr. Das Staunen über die Schönheit der Schöpfung ist in ihm erstorben.
„Tragikomödie mit Musik. Eine groteske Oper“ nennt Eötvös sein neues Stück. Der überwiegend melodramatische Stil – ein ausnotierter Sprechgesang zu einem symmetrisch aufgeteilten Orchester, das zart, aber pausenlos rumst, rasselt, faucht, schnarrt, rülpst, grunzt, pfeift und furzt – knüpft mit erweiterten Mitteln an den kabarettistischen Stil des „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg an. Auch an die Stücke, die Bertolt Brecht mit Hanns Eisler oder Kurt Weill herausbrachte, ließe sich denken. Bezeichnenderweise lässt Eötvös zwei Figuren aus dem sprechsingenden Mischmasch der Uneigentlichkeit herausragen: den klardenkenden Hagelmayer, der nur spricht, und den klarfühlenden Valuschka, der nur singt.
Das Libretto ist eines der witzigsten und pointiertesten, die in den letzten Jahren für die zeitgenössische Oper geschrieben wurden. Nur leider bringt die musikalische Prosodie von Eötvös diese Pointen nicht plastisch genug heraus. Auch ist in Regensburg zu wenig an der Verständlichkeit des Textes gearbeitet worden. Es fällt auf, dass man beim Tenor Benedikt Eder als Valuschka, einem phantastischen, bemerkenswerten Sänger und Darsteller, jedes Wort versteht, wenn er nur singt, bei vielen anderen Darstellern – mit Ausnahme des perfekten Gabriel Kähler als Hagelmayer – aber kein einziges, sogar wenn sie sprechen. Dafür gelingt es den Singenden überzeugend, eine vokale Physiognomie ihrer Figuren zu erschaffen: füchsische Geschmeidigkeit bei Kirsten Labonte als Bürgermeisterin Tünde, glühende Sinnlichkeit unter gehetzter Angst bei Theodora Varga als Valuschkas Mutter Frau Pflaum, rechtschaffen zermürbte Güte bei Roger Krebs als Professor, schneidig-lüsterne Leutnantseleganz bei Jonas Atwood als Mann im Lodenmantel und eitel flackernde Nervosität bei Hany Abdelzaher als Zirkusdirektor.
Fit fürs Flashmobbing
Harish Shankar hat den Chor, besonders die Männer, fürs protofaschistische Flashmobbing fit gemacht. Stefan Veselka holte sich beim schwerkranken Eötvös, der eigentlich hätte dirigieren sollen Rat für die musikalische Umsetzung, die ihm sehr evokativ gelingt.
In dem wandlungsfähigen Bühnenbild von Kristopher Kempf, das aus der Kulisse einer alten Stadt immer neue Außen- und Innenräume, gar den Blauwal selbst hervorgehen lässt, agieren die Darsteller in Kostümen der Jahre um 1930, die Sebastian Ritschel entwarf. Seine Regie historisiert das Geschehen, was das Herstellen von Selbstbezügen durch das Publikum eher begünstigt als die handelsüblich nötigende Aktualisierung. Dass Eötvös einen femininen Faschismus aus einer grünen Bewegung hervorgehen lässt, die ihrerseits rechtspopulistische Züge trägt, gehört als innere Ambivalenz und prismatische Brechung zu den Stärken des Stücks, das sich gegen politische Vereinnahmung sperrt.