Den Maler Friedrich Nerly kennt keiner – und jeder. Außerhalb der Mauern Erfurts, wo er 1807 geboren wurde und nun im barocken Angermuseum nach vier Jahren intensiver Forschungs- und Vorbereitungszeit die fabelhafte Ausstellung „Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt“ mit mehr als zweihundert Werken zu sehen ist, scheint er nur Spezialisten als einer der frühen Freilichtmaler unter den Italienreisenden und Meister freiester Ölstudien ein Begriff zu sein. Doch kennt wirklich jeder seine ikonischen Ansichten von Venedig, vor allem bei Nacht. Richtiger müsste es heißen: Venedig wurde erst durch Nerly zu dem auf ewig eingebrannten Bild im Menschheitsgedächtnis, gerade so, wie es in der Dachterrassen-Inschrift des berühmten Palastes von Bomarzo heißt: „Nicht die Orte machen die Menschen, sondern die Menschen die Orte.“
Dieses durch und durch romantische und idealisierte, von Nerly entworfene „Venedig als Bild“ aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist bis heute trotz aller Probleme des Massentourismus – an dem der Erfurter nicht ganz unschuldig ist – das gültige geblieben. Sein bekanntestes Bild, „Die Piazzetta in Venedig bei Mondschein“, kennt man in England und Frankreich ebenso wie in Amerika und Russland. Von seiner endgültigen Übersiedlung in die Lagunenstadt im Jahr 1838 an malte Nerly es 36-mal und verkaufte es über ein engmaschiges Netzwerk von Agenten und über die seinerzeit entstehenden Kunstvereine in alle Welt. Auf dem Piazzetta-Gemälde lenkt vom linken Rand her der Dogenpalast sanft den Blick in die Bildmitte, wo die Markussäule mit dem mächtigen Bronzelöwen aufragt. Das Licht des Bildes spendet allerdings nicht die wie ein Leuchtturm aufstrebende Säule, sondern der Mond, der mit einem kleinen Segment, aber großem Hof diese von hinten magisch erleuchtet, was noch durch die aufgerissene und sich wie ein Ehrenvorhang um den Löwen hüllende Wolke verstärkt wird.
Gischt, die man im Gesicht zu spüren meint
Doch wie wurde ein Thüringer zum entscheidenden Porträtisten Venedigs, und wie gelang es Nerly trotz der Konkurrenz von William Turner und anderer Künstlerkoryphäen in der Lagunenstadt, das sehr deutsche Romantikelement der Mondscheinnacht in Italien zu verankern?
Es war ein Umweg über Rom und andere mystische Orte Italiens, wie die konsequent in die zwei Stockwerke „Rom, Neapel, Sorrent, etc.“ sowie „Venedig“ zweigeteilte Ausstellung zeigt. Bereits bei Nerlys Frühwerk, noch geprägt von seinem Lehrer Rumohr, kann das Angermuseum prunken, das seine Gründung vor fast 140 Jahren tatsächlich der Schenkung des Nachlasses des Künstlers als Grundstock und Initialzündung für Eduard Hagen verdankt – besitzt das Haus doch neben Nerlys Gemälden 800 Zeichnungen und 22 Skizzenbücher. Etliche weitere kamen aus Depots, durch Restaurierungen, aus Privatsammlungen und als sprichwörtliche Dachbodenfunde hinzu. Schreitet man nun auf der linken Wand an den von Rom aus besuchten Orten Olevano und Subiaco entlang und vollendet den Rundgang auf der rechten Wand mit Neapel, Capri und Sorrent, packt einen unwillkürlich schlimmstes Italienfernweh.
Durch die hohe Kunst der „Ölstudien“, die als meist nicht verkauftes Arbeitsgrundlage für künftige Bilder im Atelier hingen, doch vor Ort in einer Art Vorimpressionismus-Pleinair auf Malpappe oder Täfelchen hingeworfen wurden, konnte Nerly das unverwechselbare Licht des Südens so festhalten, wie es eine Stunde später schon nicht mehr zu sehen gewesen wäre. Sein „Felsen bei Olevano“ von 1832 stellt den steinigen Gesellen verlebendigt ins Zentrum und fixiert das Spiel des Sonnenlichts auf ihm. Und obwohl Olevano zu dieser Zeit nur so vor deutschen und englischen Malern wimmelte, die gefühlt jeden Stein dort hundertfach verewigten, ragt Nerlys Ölstudie durch ihre Lebendigkeit heraus.
Sein frühestes Landschaftsbild von 1829 aus einer Erfurter Privatsammlung zeigt im Mittelgrund ruinöse römische Kaiserpaläste der Antike, im Hintergrund aber die Berge in feinem Sfumato, während die Bäume fulminant von der Sonne hinterschienen werden. Nerly erzeugt hier das fleckig impressionistische Licht subtil durch Aussparung von Farbe. Diese Lichtfelder durch Inversion, ein Kniff, den zuerst der 1828 ebenfalls in Rom arbeitende Carl Blechen in seinen Skizzenbüchern entfaltete, übernimmt der Erfurter in seinen Sepia- und Tuschezeichnungen. In diesem Medium bereitet er auch den imposanten „Wasserfall von Subiaco“ neben dem Kloster San Benedetto vor, dessen Gischt man im Gesicht zu spüren meint, ähnlich wie 1829/30 auch die Kaskade von Tivoli. Gleich drei Versionen von „Terracina“, hundert Kilometer südöstlich Roms, mit dem auf dem Felsrücken thronenden kubischen Jupitertempel im Bauhausstil, veranschaulichen die penible Erfassung der Motive aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.
Motive der Vergänglichkeit
Kein einmal lieb gewonnenes Motiv wie eine „Baumstudie aus dem Park Chigi“ ist je verloren, sie finden sich wie die in Ölstudien festgehaltenen „Büffel in der Campagna“ oder die herrlichen „Granatäpfel“ und der „Braune Topf mit Agave“ in Öl auf Papier stets in neuen Bildkontexten wieder: Das halb verwelkte Agaven- und Feigenblatt wie auch die mit genauen Farb- und Glanzlichtangaben versehene „Libelle“ und zahlloses anderes Gekreuch kehren getreu auf dem monumentalen Bild „Zwei Schwäne verteidigen ihr Nest gegen eine Schlange“ von 1859 wieder, wobei Nerlys besonderes Interesse für Momente des Verfalls in den welken Blättern und das höhlenartig Düstere des Sottobosco-Waldbodenstilllebens auf diesem dramatischen Bild unübersehbar ist.
Mit diesem Rüstzeug des Festnagelns von Licht auf wie auch immer beschaffenen Oberflächen zieht es ihn 1837 für einige Monate nach Venedig, um dort 1838 eine Venezianerin zu ehelichen, in den malerisch teilverfallenen Palazzo Pisani zu ziehen und für die nächsten vierzig Jahre in der Lagunenstadt zu leben und zu arbeiten. Neben den 36 nur wenig veränderten Versionen des ikonischen „Markusplatzes im Mondschein“, von denen die Kuratoren Claudia Denk und Thomas von Taschitzki mittlerweile immerhin siebzehn erhaltene ausfindig machen konnten, stammen von ihm auch die später zu Postkartenmotiven geronnenen schrundigen Palazzomauern, auf denen das Licht tanzt, sowie die ohne Gesang nicht zu denkenden Gondeln, in denen man erst zum Venezianer wird und denen ein eigener Ausstellungsteil gewidmet ist – alles ohne modernes Gaslicht.
Viele Bilder sind erkennbar vom Wasser und von der Gondel aus gemalt, den 1856 entstandenen „Blick auf den Palazzo Reale“ der Kaiserin Sisi mit österreichisch weiß-rot bemalten Stangen davor etwa hält Nerly nahe von der Wasserseite aus fest. Und anders als Canaletto porträtiert er erstmals die Lagune, den noch verwilderten und völlig unbebauten Lido und jeden auf den ersten Blick noch so unscheinbaren Winkel Venedigs, waren doch zu seiner Zeit noch viele Kanäle auf Napoleons Geheiß zugeschüttet und so manches zu Fuß erreichbar und malbar, was zuvor in diesen Perspektiven gar nicht Bildmotiv hätte werden können. Die Atmosphäre von Nerlys Venedigansichten im Mondschein ist ohnehin eine völlig andere als bei Canaletto oder zuvor bei Carpaccio.
Das wollte er verhindern
Neu- und Wiederentdeckungen von Künstlern haben die Tendenz zur Überkompensation und schreiben und billigen diesen dann gut gemeint zu viel zu. Doch gebührt Nerly, der ruinöse Palazzo-Details, schiefe gotische Kielbogenfenster und malerisch zerbrochene Butzenscheiben des Mittelalters bereits von 1838 an verewigt und sich früh denkmalpflegerisch gegen den Ausverkauf von Spolien in alle Herren Länder wendet, das Verdienst, noch vor John Ruskins „Stones of Venice“ von 1851 auf die erhaltenswerten Schönheiten dieser schwarzromantischen Stadt aufmerksam gemacht zu haben.
Wenn schließlich der schmale bemalte Leinwandstreifen „Fischer in der Lagune bei Venedig“ kurz nach 1837 eines jener Werke Nerlys war, die 1906 in der legendären Jahrhundertausstellung in Berlins Nationalgalerie gezeigt wurden, versteht man angesichts der ungeheuren Lichthaltigkeit und Frische dieser Ölstudie unmittelbar, warum er vor bald 120 Jahren als derart wichtig galt und bis heute als Former des Bilds von Venedig auch blieb.
Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt. Im Angermuseum, Erfurt; bis zum 23. Februar. Der Katalog kostet 62 Euro.