Als vor einem halben Jahrhundert, auf einem Kolloquium in Cerisy-la-Salle, einem Städtchen in der Normandie, eine Debatte über die philosophische Autorschaft Friedrich Nietzsches und die Einheit seines Werkes aufbrach, stand viel auf dem Spiel. Es ging um Fragen der Autorität, die Texten durch die Beifügung eines Namens verliehen wird, und um die Einsicht in ideologische Vereinnahmungen. Mit dem Namen Nietzsche waren die Überlegungen verknüpft, ob sich seinem Denken diesseits ideologischer Übergriffe für gegenwärtige Gesellschaftstransformationen etwas abgewinnen lässt und wie ein adäquater editorischer Umgang mit seinen Schriften aussehen sollte.
Auf der einen Seite standen die französischen Intellektuellen Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Michel Foucault, die ihre Lektürestrategien erprobten, während auf der anderen Seite die Nietzsche-Enthusiasten und -Editoren Giorgio Colli und Mazzino Montinari zur Tat schritten und eine kritische Gesamtausgabe organisierten. Der Berliner Kulturwissenschaftler Philipp Felsch hat dem Thema kürzlich ein Buch gewidmet.
Die Diskussion um eine mögliche Neuaneignung von Nietzsches Werk hatte mehrere Zentren. Zum einen ging es um die Auflösung von Autorschaft in die Prozessualität von Lesen und Schreiben. Hier korrelierte dem „Tod des Autors“ (Roland Barthes) in einzelnen Fällen auch die Entlastung von eigener Urheberschaft für das unter anderen politischen Rahmenbedingungen geschriebene Wort. Zum anderen stand die Auflösung der Werkeinheit auf der Tagesordnung, insofern mit der Diskreditierung von Autorschaft nun dem Editor die Entscheidung zufiel, was Teil der Werkedition sein sollte und was nicht.
An die Stelle des Urhebers traten die Herausgeber
Ein Vorgang kehrte sich um, dessen Wurzeln in den Tiefen des neunzehnten Jahrhunderts, in den Poetologien der Romantik, in der Genieästhetik der Goethezeit, in der literarischen Hermeneutik Diltheys und im Immaterialgüterrecht liegen. An die Stelle des Urhebers mitsamt seinem zu Lebzeiten publizierten Werk inklusive der letztwillentlich verfügten Nachlassfürsorge trat nun ein Team von Editoren mit fachlich ausgewiesener Urteilskraft, um auf der Grundlage von transparent zu machenden Kriterien über den Zusammenhang von Autor und Werk zu entscheiden.
Foucault hatte zu Recht angesichts erster Berichte vom Umfang der zu edierenden Dokumente im Nietzsche-Archiv die Frage aufgeworfen, welche objektivierbaren Kriterien für editorische Entscheidungen zur Verfügung stehen. „Wo soll man haltmachen?“ Und „wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk bestimmen“? Diese Fragen aus Foucaults vielzitiertem Vortrag „Was ist ein Autor?“ sind nach wie vor unbeantwortet. Nachdem der Rauch der Debatte um die Einheiten von Autorschaft, Werk und Text verzogen ist, zeigt sich heute, dass die editorische Praxis ihre eigenen Antworten gibt. Zwar keine allgemeingültigen Antworten, aber doch im Einzelfall erstaunliche und sich widersprechende.