Als die Sirenen am frühen Morgen des 7. Oktobers in Kfar Aza aufheulen, denken Yahav Winner und Shaylee Atary noch, es sei ein gewöhnlicher Raketenalarm: einen Augenblick im Safe Room ausharren, bis das Raketenabwehrsystem Iron Dome die Geschosse aus Gaza abfängt, dann wird schon alles wieder zur Normalität zurückkehren. Doch Momente später hören sie Explosionen und Schüsse, laute Rufe auf Arabisch, jemand hantiert am Fenster ihres Schlafzimmers. Aus Whatsapp-Gruppen wird schnell klar, dass Terroristen den Kibbuz an der Grenze zu Gaza gestürmt haben. Per Zeichensprache einigt sich das junge Paar, dass er die Tür versperrt und sie sich um ihr neugeborenes Baby kümmert. Es ist nicht mal Zeit, sich zu verabschieden.
Yahav Winner hält die Fenster und Türen zu und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, als die Terroristen sein Haus stürmen; seine Frau läuft mit der einen Monat alten Tochter fort. Sie versteckt sich erst in Büschen, dann unter Blumentöpfen in einer Scheune, schließlich bei einer Familie, deren Haus noch nicht angegriffen wurde. Jedes Mal, wenn ihre Tochter Shaya anfängt zu weinen, wird auf sie geschossen, bis wieder Stille einkehrt. Erst 27 Stunden später werden sie vom israelischen Militär gerettet. Tage später erfährt Shaylee Atary – während eines Interviews mit dem britischen TV-Sender Sky News –, dass die Leiche ihres Mannes gefunden wurde.
„Er wollte, dass wir eine große Familie haben“, erzählt Shaylee Atary. Und die Hoffnung, diesen Wunsch zu erfüllen, hegt sie noch in den Stunden nach der Todesmeldung. Es wird ein Lauf gegen die Zeit, nicht nur um die Erinnerung ihres Mannes, der ein aufstrebender Filmemacher war, sondern auch, um nach seinem Tod neues Leben zu schaffen. Atary versucht mit einer öffentlichen Kampagne, den Leichnam ihres Mannes so schnell wie möglich zu identifizieren, um eine postmortale Spermienentnahme zu erwirken. Wenn sie schon ihren Mann verloren hat, so will sie doch mit den Mitteln der Medizintechnik ihren gemeinsamen Traum fortführen.
Entnahme ohne gerichtliche Zustimmung
„Familie und Kinder haben einen sehr hohen Stellenwert in der israelischen Gesellschaft, auch deshalb gehört Israel zu den Vorreitern der Reproduktionsmedizin”, sagt Dr. Noga Fuchs Weizman, 45, Fruchtbarkeitsspezialistin am Ichilov Krankenhaus in Tel Aviv. In-vitro-Fertilisationen sind im Land längst Normalität, Kryokonservierungen gehören zu den Routineeingriffen in Fruchtbarkeitskliniken und werden bei jungen Frauen immer beliebter. Nur in wenigen anderen Ländern werden Maßnahmen für die Familienplanung so stark staatlich subventioniert wie in Israel. So ist die künstliche Befruchtung für Frauen bis 45 Jahre kostenlos; das Einfrieren von Eizellen ist mit 10.000 Shekel, umgerechnet weniger als 3000 Euro, vergleichsweise günstig und einfach zugänglich.
Zudem ist in den vergangenen Jahren – auch wegen der anhaltenden Konfliktsituation – die postmortale Samenspende immer wieder ein Thema öffentlicher Debatten gewesen. Seit 2003 dürfen die Partnerinnen getöteter Soldaten ohne großen Aufwand Spermien entnehmen und sich damit befruchten lassen; für Eltern war für die Samenentnahme bis zum 7. Oktober ein Gerichtsbeschluss per Eilverfahren notwendig, das in den meisten Fällen genehmigt wurde. Seit dem Angriff der Hamas dürfen Eltern, zumindest vorübergehend, die Spermien ihrer toten Söhne auch ohne gerichtliche Zustimmung entnehmen.
Die Entnahme ist aber nur der erste Schritt; die Bedingungen für die spätere Verwendung der Spermien und die Zeugung bleiben weiter kontroverse ethische und juristische Angelegenheiten. Besonders prominent ist der Fall von Amit Ben Ygal, der mit 21 Jahren als Soldat bei einem Einsatz im Westjordanland gefallen ist. Sein Vater Baruch Ben Ygal hat zwar eine Samenentnahme bei seinem einzigen Kind erwirken können, kämpft aber seitdem gerichtlich darum, diese auch zur Zeugung eines Enkelkindes nutzen zu dürfen. Das Urteil steht noch aus.