Die unerwartet stark zurückgegangene Inflationsrate im Euroraum hat die Frage aufgeworfen, ob die Europäische Zentralbank (EZB) womöglich schneller als geplant die Zinsen senkt. An den Finanzmärkten verfestigt sich zunehmend die Ansicht, dass die EZB ihre Leitzinsen noch vor der amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed) herabsetzen wird. „Während die Fed auf der Bremse steht und die Erwartungen runterkühlt, hat sich EZB-Chefin Christine Lagarde weit aus dem Fenster gelehnt“, sagte Klaus Stopp, Anleihefachmann der Baader Bank. Die meisten EZB-Ratsmitglieder haben sich für Juni als Zeitpunkt der ersten Zinssenkung ausgesprochen, die Aprilsitzung war aber auch als eine Möglichkeit genannt worden. Lagarde hatte nach der vorigen EZB-Ratssitzung im März gesagt, über die weitere Inflationsentwicklung wisse man im April „etwas mehr“, im Juni jedoch „deutlich mehr“.
Kann es also passieren, dass der EZB-Rat schon an diesem Donnerstag auf seiner Aprilsitzung die Leitzinsen senkt oder sich zumindest schon definitiv auf eine Zinssenkung im Juni festlegt? Lagarde hatte zuletzt stets hervorgehoben, die Notenbank werde „datenabhängig“ vorgehen, das schließe Abweichungen vom ursprünglichen Plan nicht aus. Trotzdem waren ihre Äußerungen zu einer Zinssenkung im Juni für Notenbankerverhältnisse recht eindeutig gewesen. Und Notenbanker versuchen in der Regel, die Finanzmärkte nicht unnötig zu überraschen, um Turbulenzen zu vermeiden.
Die Inflation im Euroraum war im März trotz der teureren Reisen zu Ostern auf 2,4 Prozent gesunken. Das war ein stärkerer Rückgang, als allgemein erwartet worden war. Allerdings verharrte die Dienstleistungsinflation, an der man unter anderem Auswirkungen der höheren Löhne auf die Preise erkennt, bei hohen 4 Prozent. Zwischenzeitlich hat nun die Schweizerische Nationalbank (SNB) ihre Leitzinsen überraschend gesenkt, um 0,25 Prozentpunkte. Begründet wurde der Schritt mit einer Revision der Inflationsprognose. Das hat an den Finanzmärkten zu Diskussionen geführt, ob auch bei der EZB am Donnerstag eine Überraschung bevorstehen könnte, wie die Fondsgesellschaft Ethena schreibt.
„Die Hürden sind sehr hoch“
Karsten Junius, Ökonom der Bank J. Safra Sarasin, meint allerdings, angesichts der starken Vorfestlegung der EZB auf den Juni sei das nicht sehr wahrscheinlich: „Die Hürden sind sehr hoch.“ KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib ist ebenfalls der Meinung: „Die Mehrheit der EZB-Ratsmitglieder wird wohl am Donnerstag für unveränderte Leitzinsen votieren.“ Und Frederik Ducrozet, Ökonom der Bank Pictet, schreibt in einer Analyse: „Wir rechnen weiterhin damit, dass die Fed, die EZB und die Bank of England ihre Zinssenkungen im Juni beginnen werden.“ Diskutiert wird zudem schon, ob die EZB nach einer Zinssenkung im Juni dann gleich im Juli den nächsten Schritt gehen könnte und es damit zwei Sommerzinssenkungen gibt. Lagarde hat sich dazu bislang nur vage geäußert, es gebe keinen Automatismus.
Mittlerweile fordern nicht nur Makler, Gewerkschaften und manche Unternehmensverbände niedrigere Zinsen; auch beispielsweise der Ökonom Moritz Schularick äußerte in der „Süddeutschen Zeitung“, es werde Zeit, die Zinsen zu senken. Holger Schmieding, der Chefvolkswirt des Bankhauses Berenberg, ist sogar der Auffassung, es wäre generell sinnvoll gewesen, wenn die EZB ihre Zinsen nie bis auf 4 Prozent angehoben hätte: „Spätestens bei 3,5 Prozent hätte Schluss sein müssen.“ So gesehen wäre es aus seiner Sicht sinnvoll, den Fehler möglichst schnell zu korrigieren. „Aber die EZB hat sich ja festgelegt, erst im Juni zu handeln“, sagt Schmieding: „Mittlerweile steigt die Gefahr, dass die EZB dann zwar spät, aber wie häufig zu kräftig reagieren wird.“ Das könne heißen, dass sie ihre Zinsen bis Frühjahr 2025 nicht nur auf 3 Prozent, sondern auf zu niedrige 2,5 oder sogar 2 Prozent senke, meint Schmieding: „Zentralbanken überschießen leider oftmals in beide Richtungen und destabilisieren so den Konjunkturzyklus.“
Gegen eine Zinssenkung im Juni ist im EZB-Rat offenbar keiner mehr. Selbst die Falken, also die Befürworter einer straffen Geldpolitik wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel oder Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann, die lange für Abwarten plädierten, seien mittlerweile offen für einen ersten Zinsschritt im Juni, meint Marco Wagner, EZB-Beobachter der Commerzbank. Holzmann sagte zuletzt: „Ich habe keine prinzipiellen Einwände gegen eine Lockerung im Juni, aber ich möchte erst die Daten sehen, und ich möchte datenabhängig bleiben.“ Und Bundesbankpräsident Nagel äußerte: „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Leitzinsen noch vor der Sommerpause senken werden, ist in letzter Zeit gestiegen.“ Der französische Notenbankchef François Villeroy de Galhau, der im EZB-Rat oftmals eine mittlere Position vertritt, führte aus, die erste Zinssenkung dürfte im Frühjahr erfolgen, die Diskussion über den genauen Monat, April oder Juni, sei „nicht so relevant“. Und der portugiesische Notenbankchef, Mário Centeno, hob hervor: „Die Inflation liegt wieder unter 3 Prozent. Die Geldpolitik muss dieser Realität folgen und wird dies auch tun. Wir sind am Ende dieses inflationären Prozesses angelangt.“