Das Schreiben ist für die meisten Autoren eng mit dem Lesen verbunden: Bestimmte Werke anderer Schriftsteller haben ihr Leben geprägt, manchmal das eigene Schaffen erst ermöglicht. Dieses Prinzip gegenseitiger künstlerischer Inspiration ist das gedankliche Fundament der Buchreihe „Bücher meines Lebens“. Als ihr Herausgeber bittet Volker Weidermann für jeden Band einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin, über Bücher zu erzählen, die ihr Leben verändert und ihr Autorsein maßgeblich beeinflusst haben. Zu den beiden Eröffnungstiteln merkte die Literaturwissenschaftlerin Friederike Reents in ihrer Besprechung (F.A.Z. vom 5. November 2022) treffend an, dass das Thema der Reihe die Gefahr birgt, in Lobhudelei abzudriften. Reents beurteilte Mithu Sanyals Band über Emily Brontë in dieser Hinsicht als gelungen, während ihr Florian Illies’ Abhandlung über Gottfried Benn weniger gefallen hat.
In diesem Spannungsfeld zwischen unkritischer Lobrede und reflektierter Annäherung kann auch der neueste Titel der Reihe betrachtet werden, den Jenny Erpenbeck vorgelegt hat: Ihr Essay über Christine Lavant erscheint im Jahr des fünfzigsten Todestages der österreichischen Dichterin. Die Verehrung Lavants klingt zwar in jedem Wort Erpenbecks durch, aber an kritischen Tönen fehlt es nicht, gerade in Bezug auf das Verhältnis Lavants zu Nazideutschland und dessen Überbleibseln. Über die späte Freundschaft der Schriftstellerin mit dem Arzt Otto Scrinzi sinniert Erpenbeck: „Weiß sie nicht, dass er während der Nazizeit am Innsbrucker Institut für ‚Erb- und Rassenbiologie‘ gearbeitet hat? Oder sieht sie darüber hinweg, sie, die Vereinsamte, die der menschlichen Zuwendung so sehr Bedürftige?“ Dem Fallstrick, der im Thema der Reihe angelegt ist, konnte Erpenbeck also entgehen.
Zentral in ihrem Essay ist die Frage danach, was Schreiben und Lesen fürs eigene Leben bedeuten, im Allgemeinen, aber auch im Besonderen für Christine Lavant. Erpenbeck überlegt: „Was ist das: Lesen? Wie geht das, dass man lesend mehr versteht, als man weiß?“ Diese Erfahrung wird allerdings nicht als per se angenehm aufgefasst, vielmehr kann Lesen auch gewaltvoll sein, Gewohntes und Bekanntes einstürzen und einen mit völlig fremden, neuen Gedanken(-welten) konfrontieren. So beschreibt Erpenbeck ihre erste lebensverändernde Begegnung mit Christine Lavants Lyrik, und so geht es auch Lavant selbst bei verschiedenen Lektüren im Laufe ihres Lebens. Für die Schriftstellerin wurden Lesen und Schreiben zu Mitteln, Schmerz zu verarbeiten und auszuhalten: „Der Ausgangspunkt ihres Schreibens ist ihr Leiden und die Auflehnung dagegen.“
Wie sie vor der Euthanasie gerettet wurde
1935, mit nur zwanzig Jahren, hatte Lavant bereits zweimal versucht, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, und wies sich selbst in eine Nervenheilanstalt in Klagenfurt ein. Die Erfahrungen des sechswöchigen Aufenthalts hat sie in ihren „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ schriftlich verarbeitet. Ihre Eheschließung 1939 mit dem Maler Josef Habernig rettete Lavant zwar vermutlich vor der sogenannten Euthanasie, welche die Nationalsozialisten auch in Österreich durchführten; die Ehe gestaltet sich aber keineswegs als liebevolle Liaison, sondern als kalkulierte Zweckgemeinschaft, wobei Habernig von dieser eher profitierte als sie. Christine Lavant kümmerte sich um den Haushalt und verdiente durch ihre Strickarbeit den Lebensunterhalt für beide, während er seine Künstlerfreunde treffen und malen konnte. Das Schreiben ist für sie in den ersten Jahren der Ehe zuerst gar nicht möglich und später nur heimlich.