Im Jahr 1999 veröffentlichten Kulturredakteure und Literaturwissenschaftler, unter ihnen Peter von Matt und Walter Jens, ein Buch mit „100 Wörtern des Jahrhunderts“. Die kommentierte Liste reichte von „Aids“ und „Deportation“ über „Kaugummi“ und „Perestroika“ bis zu „Urknall“, „Terrorismus“ und „Wolkenkratzer“. Nun ist wieder ein Buch mit hundert „Jahrhundertwörtern“ erschienen; verfasst hat es der emeritierte Germanistikprofessor Hans Jürgen Heringer, der sich mit Arbeiten zur Grammatiktheorie, Sprachkritik und Deutschdidaktik profiliert hat. Die beiden Wortlisten haben nur fünf Ausdrücke gemeinsam: „Bikini“, „Konzentrationslager“, „Sterbehilfe“, „Wende“, „Wolkenkratzer“.
Dass die Schnittmenge so klein ist, liegt nicht an dem knappen Vierteljahrhundert, das dazwischenliegt, sondern an den unterschiedlichen Auswahlkriterien. Die Wörterbuchautoren vor der Jahrtausendwende konzentrierten sich auf Begriffe für Dinge, Trends oder Erfindungen, die dem zwanzigsten Jahrhundert dauerhaft ihre Signatur verliehen haben. Dementsprechend sind sie im Wortschatz der Allgemeinheit immer noch verankert. Heringer, dessen verlängertes „Jahrhundert“ ebenfalls in der Kaiserzeit beginnt, versammelt hingegen viele Wörter, die außer Gebrauch gekommen sind. Sie haben dafür zeittypisches Kolorit und werfen Schlaglichter auf Verschwundenes und fremd Gewordenes.
Dazu gehört der „Vatermörder“, das Wort für den steifen wilhelminischen Stehkragen, der am Hals Karl Lagerfelds noch in unsere Tage hineinragte, oder der „Quisling“, ein norwegischer Nazikollaborateur, dessen Name zur Gattungsbezeichnung für seinesgleichen wurde. Die „Zigarettenwährung“ führt in die Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform, und das „Sit-in“ verströmt das Flair der späten Sechzigerjahre, während die so benannte Praxis dank der Klimakleber eine ganz aktuelle Bodenhaftung erhalten hat. Noch jung, aber fast schon vergessen ist der „Mauerspecht“, der nach der Wiedervereinigung Souvenirbrocken aus dem antifaschistischen Schutzwall klopfte.
Doch so facettenreich Heringers Auswahl ist – das Vergnügen an der Lektüre der Wortgeschichten wird durch seinen Stil getrübt. Der Autor liebt rhetorische Fragen, verkürzte Sätze und grammatische Aussparungen. Warum das? Soll einen Plauderton simulieren. Verdunkelt aber oft den Sinn. Außerdem anstrengend zu lesen. Ist eben ein Buch. Kein Gespräch. Gravierender ist, dass sich dieser sprunghafte Duktus auch auf die Inhalte auswirkt. Zu oft bleiben die Angaben zur Wortgeschichte im Ungefähren, ergeht sich der Autor in Anspielungen und sprachkritischen Andeutungen, die sich nur dem ohnehin schon Eingeweihten erschließen.
Unter dem Stichwort „Reichskristallnacht“ beispielsweise kritisiert Heringer dessen Ersetzung durch „Pogromnacht“ im öffentlichen Diskurs und fragt, ob das „klirrende Wort“ die Schrecken nicht viel eher erfasse als das ersetzende „Pseudonym“, das er als „Reinwaschung“ missbilligt. Dieser Standpunkt ist diskutierenswert. Aber statt Fakten und Argumente verständlich darzulegen, deckt Heringer den Leser mit einer Batterie von polemischen Suggestivfragen ein, die eher überrumpeln als überzeugen und den nicht Vorgebildeten nur ahnen lassen, worum es eigentlich geht.