Eine vorausschauende Planung ist auf Bahnreisen in Deutschland alles. Ohne einen großzügigen Puffer sollte man sich nicht auf den Weg machen. Das wissen deutsche Bahnkunden schon lange, nun haben es während der Fußball-EM auch etliche europäische Fans gelernt, die der deutschen Eisenbahn bisher nicht viel Beachtung schenkten. Doch in der Ferienzeit gibt es umgekehrt Gelegenheit, den Bahnkomfort in anderen Teilen der Welt zu testen – und manchmal kann ein geplagter Pendler da nur vor Neid erblassen. Allerdings gibt es mancherorts auch Hürden, auf die die Urlauber womöglich nicht vorbereitet sind.
Alle zwei Minuten ein Zug aus Tokio
Zum Sehnsuchtsland deutscher Bahnkunden ist längst Japan geworden. Ein Land mit deutlich mehr Einwohnern (125 Millionen), auf etwas mehr Fläche und mit einem unwesentlich kleineren Schienennetz als Deutschland. Doch der entscheidende Unterschied: Wer von Japans Hauptstadt in die zweitgrößte Metropole Osaka reisen will, braucht dafür nicht groß zu planen. Gerade einmal zweieinhalb Stunden braucht der Shinkansen-Schnellzug vom Hauptbahnhof Tokyo Station in die 500 Kilometer westlich gelegene Großstadt. Das Auto benötigt für die Strecke meist sechs Stunden und mehr – vor allem wegen des dichten Innenstadtverkehrs. Der Shinkansen hingegen wird weder von schwerfälligen Güterzügen aufgehalten noch vom langsameren Regionalverkehr, denn anders als in Deutschland müssen sich die Schnellzüge das Schienennetz nicht teilen.
Der Shinkansen fährt immer pünktlich, und an Werktagen macht sich sage und schreibe alle zwei bis drei Minuten ein Zug von Tokio auf Richtung Westen und düst dann über weite Strecken mit 300 Stundenkilometern über Brücken und durch Tunnel. Wer sich einen Fensterplatz rechts bucht, hat bei gutem Wetter einen tollen Ausblick auf den Fuji. Die große Zuverlässigkeit sorgt für nahezu makellose Pünktlichkeitswerte: In 99 Prozent der Fälle kommen die Züge pünktlich an – und dabei befördert kein Land so viele Passagiere auf der Schiene wie Japan: Rund 9 Milliarden sind es jedes Jahr im Fern- und Regionalverkehr. In Deutschland waren es im vergangenen Jahr 2,4 Milliarden, davon 140 Millionen im Fernverkehr.
Hohes Ausbautempo in China
Ähnlich pünktlich sind Bahnkunden auch in China unterwegs. Während Deutschland mit seiner Bahn leidet und hadert, ist der Gaotie der Stolz Chinas. Mehr als zwei Drittel der Hochgeschwindigkeitsstrecken der Welt liegen inzwischen in der Volksrepublik. Ende kommenden Jahres sollen die Züge auf insgesamt 50.000 Kilometern rasen. Zum Vergleich: Das zweitgrößte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt steht in Spanien und umfasst rund 4000 Kilometer. Deutschland hingegen hat wegen seines „Mischsystems“ kaum ein nennenswertes Hochgeschwindigkeitsnetz.
Das Ausbautempo in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten war atemberaubend. Jahrelang flossen jeweils mehr als 100 Milliarden Euro in das Netz. Das entspricht rund 70 Euro je Einwohner im Jahr. Interessanterweise ist das im internationalen Vergleich nicht einmal besonders viel: Deutschland hat im vergangenen Jahr 115 Euro je Einwohner investiert, wie die Interessenvereinigung Allianz pro Schiene Anfang Juli in einem länderübergreifenden Vergleich ausgerechnet hat. Spitzenreiter sind auf dieser Liste schon seit Jahren Luxemburg (512 Euro je Einwohner) und die Schweiz (477 Euro je Einwohner). In China mit seinem niedrigen Lohnniveau und niedrigen Energie- und Baukosten scheint der Betrag jedoch auszureichen: Selbst unbedeutende Städte sind in China heute an das Netz angebunden.
Erkauft wurde der historisch einmalige Bauboom mit einem enormen Schuldenberg. Die chinesische Eisenbahn ist mit umgerechnet knapp 800 Milliarden Euro verschuldet, viele weitere Verbindlichkeiten lagern bei Lokalregierungen, die Bau und Betrieb finanziell unterstützen. Die wenigsten Strecken gelten als profitabel, wegen der Finanzprobleme wurden einige Bahnhöfe und Linien schon wieder stillgelegt. Kürzlich sorgten kräftige Erhöhungen der Ticketpreise von bis zu einem Fünftel für Aufruhr im Land und Beschwerden in den sozialen Medien.
Relativ günstig im Vergleich zu Deutschland ist es immer noch: Für die gut 1000 Kilometer Luftlinie zwischen Schanghai und Peking, rund das Doppelte der Entfernung zwischen München und Berlin, für die der Schnellzug viereinhalb Stunden braucht, werden 75 bis 85 Euro für die zweite Klasse und bis zu 300 Euro für ein Businessticket fällig. Die beliebten Strecken sind nicht selten ausgebucht.
Eine große Verlässlichkeit gibt auch Gelegenheit für andere Innovationen: In China hat sich deshalb ein Service etabliert, der Neulinge immer wieder überrascht: Passagiere können per QR-Code in einigen Restaurants an den Zwischenhalten Bestellungen abgeben. Diese werden dann während des kurzen Halts im Bordbistro abgegeben – und von dort im Zug verteilt.
Überhaupt: Wer Hightech sucht, wird in China fündig. Schon die Bahnhöfe, die innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurden, erinnern eher an Flughäfen und sind riesige Betonpaläste. Die Kapazität ist auf den alljährlichen Reisewahnsinn rund um das chinesische Neujahrsfest ausgelegt, aber auch sonst sind die Hallen selten leer. Die Bahnhöfe sind oft nach dem gleichen Prinzip aufgebaut: In der Mitte ein Warteraum, der Tausenden Leute Platz bietet, rechts und links in erhöhten Galerien Restaurants und Cafés. Neben chinesischen Ketten sind darunter auch McDonald’s-, KFC- und Starbucks-Filialen.
An den Flugverkehr erinnert auch das Reservierungssystem, das in Deutschland wohl aus mehreren Gründen auf heftigen Widerstand stoßen würde. Der ehemalige Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte vor Jahren ebenfalls versucht, ein Reservierungssystem einzuführen, das die Bahnfahrerströme vorhersehbarer macht – und eine gewisse Lenkungswirkung entfalten kann. So könnte man Stoßzeiten entzerren und leere Sitze einfacher füllen.
Nur mit Ticket auf den Bahnsteig
In Deutschland löste diese Idee einen Sturm der Entrüstung aus, anders als in China. Dort gibt es ein geschlossenes System, das noch dazu eine lückenlose Überwachung ermöglicht. Die Gepäck- und Ausweiskontrolle findet schon am Eingang zum Gebäude statt. Vor dem Betreten der Gleise gibt es eine weitere Kontrolle, ohne Ticket kommt man weder in den Bahnhof noch aufs Gleis. Als Ticket reicht der Ausweis, den man bei der Buchung hinterlegt hat. In Japan setzt man übrigens auf einen Mittelweg: In den Shinkansen-Zügen ist zwar der Großteil der Waggons reservierungspflichtig, aber es gibt auch immer einige ohne Reservierungspflicht. Aber auch hier gilt: An den Bahnsteig kommt man nur mit einem Ticket.
Es zeigt sich: Länder mit sehr gut funktionierendem Hochgeschwindigkeitsnetz setzen strengere Regeln. Nur wer ein Ticket hat, kommt auf das Gleis. Manche Länder stoppen den Einlass schon einige Minuten vor der Abfahrt. Dass Menschen zu spät kommen und die Tür für den Rest der Familie aufhalten, ist damit ausgeschlossen.
Auch die Franzosen setzen voll auf Reservierungen. Der Vorteil: Hier sitzt niemand in einem überfüllten Zug auf dem Boden. Zumindest im Hochgeschwindigkeitszug TGV herrschen in Frankreich verglichen mit Deutschland paradiesische Zustände. Das beginnt schon am Bahnsteig, den dank Einlasskontrolle nur betreten kann, wer ein gültiges Ticket mit dazugehöriger Sitzplatzreservierung hat. Oft steht der TGV schon lange vor der Abfahrt am Gleis. Man kann also gemütlich seinen Waggon und Platz suchen, während in Deutschland die Ein- und Abfahrt des Zuges regelmäßig hektisch innerhalb von nur wenigen Minuten erfolgt. Eine Reservierungspflicht gibt es in Frankreich neben den TGV-Verbindungen auch auf einigen TER- und Intercités-Regionallinien.
Harte Konkurrenz in Italien
Große Unterschiede zwischen den Bahnsystemen gibt es auch beim Wettbewerb. Während in Deutschland zumindest im Fernverkehr die Deutsche Bahn der unangefochtene Marktführer ist und bis auf wenige Ausnahmen konkurrenzlos fährt, gibt es in Japan 100 private Bahngesellschaften. Der Fernverkehr inklusive der Shinkansen-Schnellzüge wird von sechs Japan-Rail -Regionalgesellschaften betrieben.
Auch in Italien hat die Konkurrenz in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass sich das Angebot verbessert hat: Zwischen dem staatlichen Anbieter Trenitalia und dem privaten Anbieter Italo gibt es einen spürbaren Konkurrenzkampf – und zwar auf den gleichen Strecken. Die Slots liegen zeitlich oft eng beieinander. Die beiden Unternehmen beobachten sich sehr genau; wenn der eine was macht, zieht der andere oft nach. Sie halten sich somit in Schach, meistens zugunsten der Kunden. Qualität des Services und Pünktlichkeit haben sich auf den Hauptstrecken, den Hochgeschwindigkeitsstrecken, deutlich verbessert, auch wenn es bei der Pünktlichkeit noch Luft nach oben gibt.
Vorbild Österreich
Österreich hingegen setzt mit Erfolg auf ein ganz anderes System: Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) haben in den vergangenen Jahren erheblich in ihr System investiert. Das Nachbarland gilt neben der Schweiz inzwischen in vielerlei Hinsicht als Vorbild für Deutschland – auch mit Blick auf die Pünktlichkeit. Die Werte von rund 80 Prozent fallen zwar im Vergleich zu den genannten asiatischen Ländern ab, allerdings leidet Österreich im Grenzverkehr auch unter dem notorisch unzuverlässigen deutschen Partner.
Böse Worte fallen jedoch nur selten, schließlich gibt es umfangreiche Kooperationen vor allem im Nachtzugverkehr. Die ÖBB organisiert das stetig wachsende Netz im Verbund mit den deutschen Kollegen, obwohl es nicht als gewinnbringend gilt. Ähnlich vorbildlich ist die Finanzierung des Schienensystems, das mit rund 5000 Kilometern deutlich kleiner ist als das 34.000 Kilometer lange Netz in Deutschland, aber mit 336 Euro je Einwohner deutlich großzügiger finanziert. In Österreich hat die Politik zudem schon vor Jahren eine Fondslösung geschaffen, auf die so mancher Verkehrspolitiker in Deutschland neidisch blickt, weil sie längerfristige Sicherheit jenseits von parteipolitischen Präferenzen garantiert.
Große Autonation USA
Wenig Grund für Neid gibt es hingegen mit Blick auf das Bahnsystem in den Vereinigten Staaten. Die amerikanische Bahn für den Passagierverkehr heißt National Railroad Passenger Corporation, ist aber allgemein als Amtrak bekannt. Sie wird als gewinnorientierte Gesellschaft geführt, bekommt aber umfangreiche Subventionen von der Bundesregierung in Washington und von einzelnen Bundesstaaten. Es gibt sie seit 1971, sie wurde damals vom Kongress gegründet, um vormalige privat betriebene Bahngesellschaften zu ersetzen, die alle mit hohen Verlusten gearbeitet haben.
Auch Amtrak arbeitet heute mit ziemlich hohen Verlusten. Auf der Internetseite von Amtrak heißt es, der Kongress habe nie „ernsthaft erwartet“, dass das Unternehmen einmal profitabel sein würde, und Profitabilität gehöre nicht zu den in der Satzung festgelegten Zielen. Allerdings: Die Amerikaner waren nie eine Bahnfahrernation, das Schienennetz des riesigen Landes ist ähnlich groß wie das deutsche. Allenfalls punktuell ist der Zug eine ernsthafte Alternative zum Auto: Der sogenannte Nord-Ost-Korridor zwischen Boston und Washington wird sehr viel genutzt und gilt als verlässlich.
In Windeseile nach Bordeaux
Wer ein Hochgeschwindigkeitsnetz erleben will, muss nicht erst nach Asien fahren. Das geht auch in Frankreich. Wenn der französische TGV den Bahnhof in Paris einmal verlassen hat, erreicht er schon bald beachtliche und selbst auf deutschen Autobahnen kaum erreichbare Geschwindigkeiten und hält diese auch konstant. Pfeilschnell reist er durch die französischen Lande und macht verglichen mit deutschen ICE-Verbindungen nur wenige Zwischenhalte. So kommt es, dass man die rund 500 Kilometer Luftlinie zwischen Paris und Bordeaux im TGV in knapp zwei Stunden Fahrzeit zurücklegt. Das ist ziemlich genau die gleiche Distanz wie zwischen Berlin und München, doch dort benötigt selbst der ICE-Sprinter knapp vier Stunden.
Positive Beispiele wie diese gibt es einige. Ins rund 400 Kilometer entfernt gelegene Straßburg kommen die Pariser in weniger als zwei, in die etwas mehr als 650 Kilometer entfernt gelegene Mittelmeerstadt Marseille in weniger als dreieinhalb Stunden. Angebote wie diese seien der Schlüssel für eine erfolgreiche Verkehrswende, hat der frühere französische Verkehrsminister Clément Beaune einmal gesagt. Man müsse verhindern, dass diese nur als Zwang erlebt werde, und brauche vielmehr „Produkte, die sexy sind“. Inlandsflüge, die in Frankreich bei einer bestehenden Zugverbindung von weniger als zweieinhalb Stunden vor ein paar Jahren untersagt wurden, fänden deshalb auch ohne das Verbot nur wenig Abnehmer.
Doch vor zu vielen Vergleichen mit Deutschland sollte man sich hüten. Schließlich ist Frankreich ein extrem zentralisiertes Land, in dem es jenseits der Metropolregion mit ihren mehr als 12 Millionen Einwohnern nur wenige große Ballungszentren gibt. So kann der TGV ungestört durch viele menschenleere Gegenden rasen, es gibt viel weniger Bedarf an Zwischenhalten auf den großen Achsen als in Deutschland. Diese sind völlig anders als in Deutschland zudem sternförmig auf die Hauptstadt zugeschnitten. Deshalb führt beispielsweise die schnellste Zugverbindung zwischen Lyon im Südosten und Bordeaux im Südwesten des Landes mit riesigem Umweg über Paris im Norden.
Doch das Hochgeschwindigkeitsnetz repräsentiert mit rund 2600 Kilometern nur ein Zehntel des französischen Schienennetzes, von dem ein Drittel noch nicht elektrifiziert ist. Das Netz wurde über die vergangenen Jahrzehnte zudem kräftig ausgedünnt. In einigen Gegenden verkehren überhaupt keine Personenzüge mehr, in der Ardèche südwestlich von Lyon sogar in einem ganzen Département mit etwa 330.000 Einwohnern. Als die Staatsbahn SNCF 1938 gegründet wurde, zählte Frankreich noch knapp 50 Prozent Schienenkilometer mehr. Verkehrsmittel Nummer eins ist in diesem Zeitraum wie in Deutschland das Auto geworden. 85 Prozent aller Reisen werden damit heutzutage unternommen.
Von Corinna Budras, Tim Kanning, Roland Lindner, Christian Schubert, Michaela Seiser, Gustav Theile und Niklas Záboji