Die Frau des Sanitätssoldaten redet sich in Rage. „Wird man die militärische Pflicht unserer Männer für erfüllt halten, wenn man sie uns nach einer schweren Verwundung nach Hause bringt, entlässt, wenn sie nur noch ein Haufen sind, ohne Arme und Beine?“
Wenn sich die Männer in „Gemüse“ verwandelt hätten und nichts mehr tun könnten, geschweige denn ihre Familie unterhalten? Müsse man gar auf ihre Rückkehr im Zinksarg warten, in dem in Russland die Leichname gefallener Soldaten nach Hause kommen? „Wann wird die Pflicht unserer Männer als erfüllt gelten?“, fragt Marija Andrejewa.
Die zierliche Mittdreißigerin sitzt am Donnerstagabend auf einem Ledersofa in einem Veranstaltungsraum namens „Agnostic“ im Osten von Moskau, Backsteinwände, Loft-Optik. Auf Fragen wie diese erhalten Andrejewa und ihre Mitstreiterinnen, von denen einige ebenfalls gekommen sind, keine Antworten von Russlands Mächtigen. Jedenfalls keine, die sie zufriedenstellen würden. Die Russinnen kämpfen seit Wochen dafür, ihre Männer von der Front im Ukrainekrieg zurückzuholen – Männer, die in der von Präsident Wladimir Putin im September 2022 angeordneten „Teilmobilmachung“ eingezogen worden und bis heute im Kriegseinsatz sind, schon eineinviertel Jahre.
Putin trifft sich nicht mit Kritikerinnen
Es werde keine „zweite Welle“ der Mobilmachung geben, hat Putin etwa Mitte Dezember in seiner vierstündigen Frage-Antwort-Show im Staatsfernsehen versichert. Aber eine Rückkehrperspektive für die Überlebenden der „ersten Welle“ fehlt. Offenkundig, weil sich die Armee trotz Erfolgsmeldungen über eine Vielzahl angeworbener Soldaten schwer damit tun würde, die sogenannten Mobilisierten zu ersetzen.
Putin selbst hat klare Signale gesetzt, wo seine Prioritäten liegen. Im November 2022, als sich nach der Mobilmachung schon einmal Frauen und Mütter von Soldaten Gehör verschaffen wollten, hatte der Präsident keine der Kritikerinnen getroffen, sondern andere Frauen in seine Residenz Nowo-Ogarjowo westlich von Moskau eingeladen und im Gespräch mit ihnen den Tod für das um ukrainische Gebiete zu erweiternde Vaterland als erstrebenswertes Lebensziel dargestellt.
Auch jetzt, in der neuen Welle des Unmuts, hat Putin noch keine der Frauen getroffen, die sich für die Rückkehr ihrer Männer einsetzen. Stattdessen kündigte er Anfang Dezember im Kreml seine neuerliche Kandidatur bei den Präsidentenwahlen Mitte März symbolträchtig auf Bitten von Eltern an, die Söhne im Krieg verloren haben. Am Neujahrstag besuchte Putin verletzte Soldaten in einem Moskauer Krankenhaus und empfing später in Nowo-Ogarjowo Kriegsteilnehmer verschiedener Einheiten.
Die Frauen kämpfen für die Rückkehr ihrer Männer
Zum Weihnachtsfest der Russischen Orthodoxen Kirche einige Tage später folgte dann ein Empfang für Familien gefallener Soldaten samt Kindern. Die Botschaft ist klar: Die Soldaten haben gegebenenfalls bis zum Letzten zu stehen, der Krieg geht weiter, als „strategische Wahl, für die jeder Russe bezahlen wird“, wie die Politologin Tatjana Stanowaja für die Carnegie-Denkfabrik schreibt. Es gehe um „Opferpatriotismus“ mit der Bereitschaft, „auch das Teuerste für den Sieg zu geben: die Kinder“.
Mit dieser Perspektive wollen sich Marija Andrejewa und ihre Mitstreiterinnen nicht abfinden. Auf Telegram sind seit dem Herbst mehrere Kanäle von Frauen entstanden, denen es um die Rückkehr ihrer Männer, Söhne und Brüder geht. „Wir holen die Jungs zurück“ heißt einer von ihnen, er hat fast 28.000 Abonnenten.