Amerikas Statistik-Papst Nate Silver, der mit seiner Datenanalyse-Website „FiveThirtyEight“ zum allseits zitierten Wahl-Orakel aufstieg, hat sich bitter über die Arbeit der Kollegen bei der Erhebung von Meinungsbildern zur Wahl beschwert. Sie „schummelten“ und folgten einem Herdentrieb, um nur ja keine Ausreißer zu produzieren, klagt Silver in seinem Podcast „Risky Business“. Es sollte sich „viel mehr Variation“ zwischen einzelnen Umfragen zeigen. Allein die New York Times/Siena College-Modelle nimmt Silver von seiner Kritik aus.
Auch andere finden die Umfragen merkwürdig, etwa Jacob Weindling, der die Website „Splinter“ führt. Die Umfrageinstitute befänden sich in einem „extrem konkurrenzbetonten Umfeld“, schreibt er, eine „schlechte“ Analyse gefährde ihr Geschäft. Bei FiveThirtyEight, das inzwischen ABC News gehört, werden Rangfolgen der Umfragen aufgestellt – wer falsch liegt, gilt sofort als wenig verlässlich.
2012 lag Silver bei allen 50 Bundesstaaten richtig
Nate Silvers Ansehen gründet darauf, dass FiveThirtyEight – benannt nach der Zahl der Wahlmänner im wahlentscheidenden Electoral College – 2008 das Resultat in 49 von 50 Bundesstaaten korrekt vorhesagte und 2012 bei allen 50 richtig lag. (Der Kandidat, der die Stimmenmehrheit in einem Bundesstaat erzielt, bekommt alle Wahlmännerstimmen dort; 270 sind für den Wahlsieg nötig.)
Seit 2016 allerdings gelten Wahlumfragen vielen als Kaffeesatzleserei. Schon Trumps Chancen, 2016 die Kandidatur der Republikaner zu ergattern, hielten Meinungsforscher für gering. Bei der Präsidentenwahl 2016 legten die meisten Umfragen einen hohen Sieg Clintons nahe, bevor Trump gewann. Sogar Silver, der Trump eine Gewinnchance von 29 Prozent einräumte, lag falsch.
Silver, der FiveThirtyEight 2023 verließ und inzwischen die Website „The Silver Bulletin“ produziert, führt jedoch ins Feld, Umfrageergebnisse seien keine Prophezeiungen, sie zeigten Wahrscheinlichkeiten auf und 29 Prozent stellten eine realistische Chance dar. 2020 wurde Trumps Anziehungskraft bei den Wählern abermals unterschätzt, auch wenn er am Ende knapp (die Stimmenmargen, die über die Wahlmännerverteilung entschieden, lagen teils bei weniger als einem Prozent) gegen Joe Biden verlor.
Sind Trump-Wähler zu „scheu“, sich zu ihrer Wahl zu bekennen?
Verschiedene Faktoren können bei Umfragen für Verzerrungen sorgen. 2016 wurde auf die „Scheu“ von Trump-Wählern verwiesen, sich zu ihrer Wahl zu bekennen. Umgekehrt könnten Wähler ihre Unterstützung für Hillary Clinton behauptet haben, um sie dann aber noch nicht zu wählen. Schließlich gibt es die Unentschlossenen, die ihre Entscheidung erst in letzter Minute treffen.
Nate Silver tritt jetzt zwar als Kritiker der Zunft auf, ist aber auch nicht schlauer als andere. Zur Wahl schrieb er in der „New York Times“, sein Bauchgefühl sage ihm einen Sieg Trumps voraus – „aber trauen sie bloß nicht jemandes Bauchgefühl, auch nicht meinem“. Denn dieses habe mit der vermeintlichen Scheu der Befragten zu tun, sich zu einer umstrittenen Entscheidung zu bekennen. Silver stellt diese These allerdings auch gleich wieder mit dem Verweis auf die Stimmenanteile von Marine LePen im vergangenen Sommer in Frankreich infrage, die schmaler ausfielen, als die Umfragen vorhergesagt hatten. Zudem sei das Stigma, für Trump zu stimmen, seit 2016 stark geschrumpft. Womöglich würden manche Meinungsforscher nun mit Blick auf Trump überkompensieren.
Dass Kamala Harris die erste Präsidentin Amerikas wäre, und als Zweite im Weißen Haus afroamerikanischer Herkunft, könne, so Silver, eine weitere Verzerrung hervorbringen. Diese wird als „Bradley-Effekt“ bezeichnet, nach dem ehemaligen Bürgermeister von Los Angeles, Tom Bradley, der bei der Gouverneurswahl 1982 schlechter abschnitt, als die Umfragen erwarten ließen – „womöglich aufgrund einer Tendenz von Wählern, sich lieber als unentschieden darzustellen als zuzugeben, nicht für einen afroamerikanischen Kandidaten stimmen zu wollen“. Andererseits habe dies Obama nicht im Weg gestanden; für Harris müsse die größere Sorge der Hillary-Clinton-Effekt sein: Unentschlossene Wähler hatten sich 2016 in großer Zahl gegen sie entschieden.
Silvers Analysen zufolge liegen die Chancen auf den Wahlsieg zurzeit bei 55 Prozent für Trump und bei 45 Prozent für Harris. Für die sagte die Meinungsforscherin Ann Selzer gerade eine Mehrheit (vor allem bei älteren Wählerinnen) in Iowa voraus. Was nichts heißen muss.
Zudem gebe es die sechzigprozentige Chance, dass ein Kandidat sechs der sieben umkämpftesten Bundesstaaten für sich entscheide und damit hoch gewönne. Soll wohl heißen: Wenn die Stimmen gezählt sind, wissen wir mehr.