Die Versorgungskrise in der Pflege nimmt zu. Immer öfter bedeutet das für Angehörige von Pflegebedürftigen, die keinen Pflegedienst oder Heimplatz finden, dass sie die Versorgung wohl oder übel selbst übernehmen müssen. Mit der Kampagne „Bei Anruf Sorry“ machen Pflegeanbieter und Angehörige von Gepflegten auf den Mangel aufmerksam.
Über vier Wochen hat der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) seine Mitglieder aufgerufen, zu dokumentieren, wie oft sie Angehörigen absagen mussten, weil sie einen Versorgungsbedarf nicht erfüllen konnten. In den vier Wochen gingen beim Verband mehr als 850 Meldungen von Pflegeeinrichtungen ein, also von Pflegeheimen, ambulanten Pflegediensten und Tagespflegen.
Im Durchschnitt musste jede Einrichtung täglich dreimal Sorry sagen und Anfragen ablehnen, obwohl dringender Bedarf bestand. Die Erhebung zeigt, wie schwer es für Pflegebedürftige und deren Angehörige geworden ist, Unterstützung zu erhalten, ob stationär oder ambulant. Im Rahmen der Umfrage haben auch pflegende Angehörige vom Verein „Wir Pflegen e.V.“ ihre Erfahrungen geteilt.
Angehörige wünschen sich Lohnausgleich für Pflege
Geht es um häusliche Pflege, denken viele vor allem daran, dass die Eltern im hohen Alter gegebenenfalls Unterstützung benötigen. Dass die Pflege auch Jüngere mitten im erwerbsfähigen Alter betreffen kann, gerät oft aus dem Blickfeld. So ist es bei Kevin Kostros. Er ist 30 Jahre alt und sagt: Er hat zwei Vollzeitjobs. Seine Mutter ist zwar erst 57 Jahre alt, sie hatte jedoch in den Neunzigerjahren einen schweren Autounfall und ist seitdem pflegebedürftig. Zunächst hatte sein Vater vorwiegend die Pflege übernommen, doch der ist vor zwei Jahren gestorben.
Kostros ist daher seit acht Jahren aktiv in die Pflege eingebunden. Im letzten Jahr haben er und seine Frau seine Mutter zu sich ins Haus geholt, um die Pflege zu gewährleisten, denn auf externe Hilfe kann er sich nur bedingt verlassen. Die Wundversorgung werde durch das Fachpersonal oft nicht zufriedenstellend erledigt, daher übernimmt er diese Aufgabe lieber selbst. Allerdings fehlen die Rahmenbedingungen, denn einen Verdienstausfall kann er sich nicht leisten. Er hat mit seinem Arbeitgeber eine Homeoffice-Regelung getroffen, um seinen Vollzeitjob und die Pflege besser zu vereinbaren.
Doch das reicht nicht: Er wünscht sich, dass es Lohnersatzleistungen für Angehörige geben würde, die zugunsten der Pflege von Familienmitgliedern die Arbeitszeit reduzieren. Das Pflegegeld reiche bei Weitem nicht aus, um einen Verdienstausfall auszugleichen. Sein Versuch, die Pflege zum Teil abzugeben, blieb bisher erfolglos: Seit seine Mutter im Frühjahr vergangenen Jahres bei ihm eingezogen ist, sucht Kostros vergeblich nach einem ambulanten Pflegedienst, der die Behandlungspflege übernehmen könnte. Das benötigte Fachpersonal fehlt.
Angehörige können nicht ausfallen
Das merkt auch Claudia Geiken: Als sie wegen einer Verletzung in der Pflege ihrer schwer behinderten Tochter ausfiel, gab es keinen Platz in der Verhinderungspflege. Ihr Mann musste seinen Jahresurlaub nehmen, um die Pflege zu übernehmen. Geiken wünscht sich ein Notfallkonzept, das greift, wenn pflegende Angehörige kurzfristig ausfallen. Sie pflegt ihre 25 Jahre alte Tochter Cäcilie, die im Rollstuhl sitzt und gewickelt werden muss, zudem muss aufgrund der epileptischen Anfälle auch nachts immer jemand da sein.
Wegen der Epilepsie hat die Familie Anspruch darauf, dass ein Pflegedienst eine außerklinische Krankenbeobachtung übernimmt, im Falle eines Anfalls also medizinisch helfen kann. Ab dem 18. Lebensjahr ihrer Tochter konnte die Familie knapp fünf Jahre darauf zurückgreifen, dann teilte der Pflegedienst mit, dass er nicht mehr ausreichend Personal für die Betreuung habe, sodass die Familie ein Dreivierteljahr ohne Pflegedienst dastand.
Seit Mai hat die Familie wieder einen Service gefunden, den sie stundenweise einplanen kann. Möchte die Familie mal gemeinsam eine Geburtstagsfeier besuchen, muss sie auf das Budget der Verhinderungspflege zurückgreifen – das reicht aber nur für rund sechs Stunden pro Monat, erzählt Geiken. Und auch die kann sie nur in Anspruch nehmen, wenn der Familienentlastende Dienst der Lebenshilfe Betreuungskapazitäten hat.
Großteil der Pflege wird von Angehörigen übernommen
Wie stark das Ausmaß der häuslichen Pflege in den vergangenen Jahren zugenommen hat, zeigen Daten des Angehörigenvereins „Wir Pflegen e.V.“. Während 2013 rund 28 Prozent der Pflegebedürftigen in Heimen betreut wurden, waren es 2021 nur noch 16 Prozent. Die große Mehrzahl (84 Prozent) der Gepflegten wird also zu Hause versorgt, nur 21 Prozent werden dabei durch einen ambulanten Pflegedienst unterstützt. Der Fachkräftemangel verschärft die Entwicklung und verdeutlicht: Ein Großteil der Pflege bleibt in der Verantwortung der Angehörigen, die sich oft alleingelassen fühlen.
Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. Notburga Ott, die Sprecherin der Kampagne des Angehörigenvereins, hat selbst acht Jahre ihre Eltern gepflegt. Sie bleibt realistisch: „Seien wir ehrlich, wir können uns keine Fachkräfte backen.“ Ihr Vorschlag: Man sollte die informelle Pflege mit der Fachpflege verzahnen und sich auf Augenhöhe begegnen. Sie plädiert dafür, die Kompetenzen der Angehörigen zu nutzen und die Pflegefachkräfte gezielt für Schwerstpflegefälle einzusetzen.
Bernd Meurer, der Präsident des bpa, bestätigt, dass die sehr hohe Nachfrage in der Pflege kaum noch bedient werden kann. Er selbst betreibt Pflegeheime und sagt: „Es ist dramatisch. In Deutschland bekommt nicht mehr jeder pflegerische Versorgung, der sie braucht.“ Er weist auch auf die volkswirtschaftlichen Folgen hin: Bleiben immer mehr Erwerbstätige für die Pflege von Angehörigen zu Hause, fehlen sie am Arbeitsmarkt als Fachkräfte. Meurer plädiert daher für eine verstärkte Zuwanderung von Pflegepersonal aus dem nicht europäischen Ausland und für niedrigschwellige Zugänge in die Pflegeausbildung, vor allem durch eine einjährige Assistenzausbildung, die mit einem Hauptschulabschluss begonnen werden kann.
Der Verband bpa fordert außerdem, die klassische Altenpflegeausbildung wieder einzuführen und ausländische Fachkräfte schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren, indem prinzipiell eine Kompetenzvermutung angewandt wird. Diese könnte durch Praxiseinsätze überprüft werden statt durch theoretische Tests.