Wenn die überragende Tennisspielerin der vergangenen Jahre, die gleichzeitig Titelverteidigerin eines Grand-Slam-Turniers ist, an einem Abend alles verliert und ihre Ausnahmestellung einbüßt, könnte das tiefen Frust hinterlassen. Die Tränen könnten in die Augen schießen, das Selbstverständnis angeknackst, die Heimreise zur Tortur werden. Iga Swiatek ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie nahm ihre Achtelfinalniederlage bei den US Open gegen die Lettin Jelena Ostapenko gelassen hin, wie einen kleinen Betriebsunfall in einem Weltkonzern.
Ein bisschen erleichtert wirkte die Polin sogar, obwohl sie es nicht so offen ausdrücken wollte. Aber dass sie sich tief im Innern nach etwas anderem gesehnt hat als eine weitere Woche bei einem Turnier, das so anstrengend ist wie kein zweites und dessen Tennismatches tief in der New Yorker Nacht enden, daraus machte sie kein großes Geheimnis.
„Ich bin einfach glücklich, dass ich Zeit zum Abschalten habe und für eine Weile nach Hause komme und andere Dinge tun kann als auf der Tour, sagte die 22-Jährige gegen ein Uhr morgens New Yorker Ortszeit.
Küchenpsychologen könnten behaupten, der Wettbewerbsgeist sei Swiatek vorübergehend entschwunden, sie habe sich aus Unlust am ständigen Hin und Her mitten in der Nacht ein wenig in die Niederlage gefügt. Dass die 22-Jährige spät angesetzte Spiele nicht mag, weil sie am nächsten Tag wenig Regeneration ermöglichen und zu einem Wettbewerbsnachteil werden könne, daraus macht sie keinen Hehl.
Perfekt für Sandplätze
Der Spielverlauf deutet zumindest darauf hin, dass Swiatek womöglich einfach nicht mehr die innere Kraft aufbringen konnte, sich der Niederlage mit allen mitteln zu widersetzen: 6:3, 3:6, 1:6 unterlag sie Ostapenko, die mit ihrer erbarmungslosen Spielweise die Polin traf.
Sie könne sich selbst nicht recht erklären, was im Arthur-Ashe-Stadium passiert sei, sagte Swiatek: „Ich bin einfach überrascht, dass sich mein Niveau so drastisch verändert hat. Wenn ich schlecht spiele, dann gewöhnlich am Anfang, danach bekomme ich die Probleme gelöst. Diesmal war es das ganze Gegenteil.“
Swiatek ist eine Strategin, die Tennis wie Schach spielt. An guten Tagen ist sie ihrer Gegnerin immer einige Züge voraus und platziert die Bälle so klug, bis ihre Gegnerin nichts mehr entgegenzusetzen hat und matt ist. Diese Spielweise eignet sich perfekt für Sandplätze wie in Paris, wo Swiatek im Frühjahr ihren Titel erfolgreich verteidigt und zum dritten Mal die French Open gewonnen hat.
Auf schnelleren Belägen tut sich schwerer mit ihrer Art, mehr dem Kopf zu folgen als der Intuition. In Wimbledon ist Swiatek noch nie über Viertelfinale hinausgekommen, ihre Hartplatzsaison in diesem Jahr verlief enttäuschend. Bei den Australian Open scheiterte sie wie in New York im Achtelfinale. Auf Teil eins der US Tour im Frühjahr war sie angeschlagen, Teil zwei in den vergangenen Wochen liefen für Swiateks hohe Ansprüche mehr schlecht als recht: In Montreal und Cincinnati scheiterte sie jeweils im Halbfinale.
Weniger Druck als Nummer zwei
Ostapenko, die 2017 als 20-Jährige überraschend die French Open gewann, trifft Swiatek öfter an ihren wunden Punkten. Die 21. der Weltrangliste spielt fortwährend aggressiv, lässt der Polin damit erst gar keine Zeit zum Nachdenken und hat es damit zu deren Angstgegnerin gebracht.
Die Lettin hat nun alle ihre vier Matches gegen Swiatek gewonnen und weist damit die beste Bilanz der Damenkonkurrenz auf. „Ich wusste, dass sie als Nummer eins viel Druck hat. Also habe ich versucht, ihr es schwer zu machen und bis zum letzten Punkt zu kämpfen“, sagte die 26-Jährige nach ihrem Coup, der ihr nun ein Viertelfinalduell mit der Amerikanerin Coca Gauff beschert.
Weil Iga Swiatek sie nun in New York einen Großteil ihrer im Vorjahr gewonnenen 2000 Punkte verliert, wird sie die Spitze der Weltrangliste nach 75 Wochen in Serie verlassen müssen. Nutznießerin ist die Weißrussin Aryna Sabalenka, für die damit schon vor ihrem Achtelfinale gegen die Russin Darja Kassatkina am Montagabend klar war, dass sie erstmals zur Nummer eins aufsteigen wird.
Iga Swiatek war nicht rundum unglücklich darüber, dass sie ihre Ausnahmestellung verlor. Einerseits sei es ganz großartig, die Beste zu sein. „Auf der anderen Seite ist es sehr erschöpfend.“ Immer im Rampenlicht zu stehen, mehr Verpflichtungen über den Tennisplatz hinaus wahrnehmen zu müssen als andere, das zehrt an den Kräften. „Es ist nicht einfach, mit dem ganzen Drumherum umzugehen“, sagte die viermalige Grand-Slam-Turniersiegerin: „Diese Saison ist wirklich hart und intensiv.“ Nun hat sie ja erstmal ihre Ruhe.