Den Staatsbesuch in Deutschland wird Emmanuel Macron im Mai in neuem Gewand nachholen. Binnen eines Jahres hat sich der französische Präsident vom nachsichtigen Vermittler zum Hardliner gegenüber Moskau gewandelt. Beim jüngsten Besuch des amerikanischen Außenministers Antony Blinken in Paris trat offen zutage, dass Frankreich inzwischen einen härteren Kurs verfolgt als Washington. Während Blinken die ukrainischen Attacken auf Treibstofflager in Russland kritisierte und betonte, Amerika unterstütze keine Angriffe auf Ziele außerhalb des ukrainischen Staatsgebiets, sprach Außenminister Stéphane Séjourné vom Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer.
Das entspricht der Position, die Macron in Beratungen mit der Opposition verteidigt hatte. Künftig gebe es für ihn „keine roten Linien“, der Ausgang des Krieges sei für Europa „existenziell“. Das gipfelte in dem Satz, er schließe nichts aus, auch nicht den Einsatz von französischen Bodentruppen.
Macron hat seine eigene Zeitenwende vollzogen. Im Frühjahr 2022 ließ er sich mit dem Versprechen für eine zweite Amtszeit wählen, als Chefvermittler den Kreml in Schach halten zu können. Seine Telefondiplomatie scheiterte bekanntlich. Russische Desinformation, Cyberattacken wie auch Drohungen gegen französische Interessen haben Macrons Sinneswandel beschleunigt. Den öffentlichen Wendepunkt markierte seine Rede in Pressburg, die in Deutschland erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erhielt. In der slowakischen Hauptstadt entschuldigte er sich Ende Mai 2023 dafür, dass Frankreich „Gelegenheiten zum Zuhören“ verpasst habe. Die Erfahrungen der früheren Länder des Ostblocks mit Moskau seien zu oft ignoriert worden.
Das Bündnis der Bremser ist Geschichte
Macron bezeichnete es als Fehleinschätzung, die Ukraine und Georgien mit „viel zu schwachen Garantien“ vertröstet und sie somit der „russischen Rachsucht“ ausgesetzt zu haben. Frankreich zählt seither zu den entschiedensten Fürsprechern eines NATO-Beitritts der Ukraine. Das deutsch-französische Bündnis der „Bremser“, das sich auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 gebildet hatte, ist Geschichte. Macron nähert sich merklich Polen, Estland, Litauen und Lettland an, also jenen Ländern, die er vor nicht langer Zeit noch als „Kriegstreiber“ gescholten hatte.
Nach der missglückten ukrainischen Gegenoffensive und vor einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps wähnt Macron Europa in einem Scharnierjahr. Plädierte er bis Juni 2022 dafür, Russland „nicht zu demütigen“, bezeichnet er eine russische Niederlage nun als Voraussetzung für eine neue europäische Friedensordnung. Erklärte er die NATO 2017 für „hirntot“, reizt er mittlerweile die Abschreckungsmacht des transatlantischen Bündnisses wie kein anderes Gründungsmitglied aus.
Seine Metamorphose von der Taube zum Falken bleibt jedoch erklärungsbedürftig.
Innenpolitisches Kalkül kann ausgeschlossen werden. Mit Kriegsrhetorik lassen sich keine Sympathien gewinnen. Macrons verbale Aufrüstung hat alle Oppositionsparteien verschreckt. Die geplante Militärhilfe in Höhe von drei Milliarden Euro für die Ukraine in diesem Jahr stößt angesichts der Sparzwänge des überschuldeten Landes auf Kritik. Den Preis einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Souverän nimmt der Präsident in Kauf. Es wäre für ihn politisch wesentlich vorteilhafter gewesen, sich als Friedensengel zu gerieren, wie Marine Le Pen es macht.
Die Rüstungsindustrie soll den Anspruch untermauern
Das spricht alles dafür, dass hinter Macrons Kurswechsel mehr als Opportunismus oder Sprunghaftigkeit steht. Der 46 Jahre alte Präsident sieht Europa vor einer historischen Herausforderung, die notfalls auch ohne Amerika gemeistert werden muss. Der Präsident hat verstanden, dass er nur glaubwürdig ist, wenn seine Worte durch konkrete Militärhilfen für die Ukraine unterlegt werden. Bislang stand Frankreich weit unten auf den Unterstützerlisten. Den Druck auf die französische Rüstungsindustrie, schneller und mehr zu produzieren, hat er verschärft, seinen Widerstand gegen Munitionskäufe außerhalb der EU aufgegeben. Die von Frankreich geführte NATO-Battle-Gruppe in Rumänien wird auf Brigadestärke aufgestockt.
Macrons neue Abschreckungsstrategie gegenüber Moskau kann jedoch nur funktionieren, wenn er nicht Kritik von Olaf Scholz und anderen Verbündeten auf sich zieht. Eine russische Desinformationskampagne soll laut einem Bericht des „Wall Street Journal“ dazu dienen, Macron als Heißsporn darzustellen, der einen Weltenbrand anzetteln könnte. Auf derartige Propaganda sollte niemand hereinfallen. Der Deutschlandbesuch bietet eine überfällige Chance zur Annäherung zwischen dem Bundeskanzler und dem Präsidenten. Es ist höchste Zeit, Putin wieder eine geeinte Front entgegenzusetzen.