Es gibt Grenzen, bei denen hatte die Natur das erste Wort. Da schaut man über einen Fluss und blickt auf ein ganz anderes Bundesland. In Mainflingen ist das so. Am Abhang der Radweg, dahinter ein schmaler, bescheidener Abschnitt des Mains. Und dahinter Bayern. Die hohen Feigen sehen königlich aus, das Land hinter der Grenze wie ein Dschungel.
Wenn man von der anderen Seite, aus Dettingen, hinüberschaut, sieht man einen Kirchturm. Die Mainwiesen, wild und satt. Und Häuser nah am Wasser. Diesseits der Brücke ist der Eindruck vom anderen Bundesland nur ein kleiner, schwärmerischer Ausschnitt.
Eigentlich sind sich Mainflingen und Dettingen ziemlich ähnlich. Sie haben ungefähr gleich viele Einwohner, etwas mehr als 4000. In beiden Orten gibt es eine Grundschule, einen Badesee, einen Angler- und einen Geschichtsverein. Obwohl immer vom Äppeläquator die Rede ist, der linguistischen Mainlinie, sprechen die Mainflinger und die Dettinger ein für Besucher astreines Hessisch. Beide Orte wurden bei Gebietsreformen vor 50 Jahren widerwillig mit ihren Nachbarorten zusammengelegt, sind also jetzt Ortsteile. In Mainflingen erzählt man sich heute noch von legendären Prügeleien mit den Konkurrenten aus Zellhausen, und in Dettingen erinnert man sich an die „Anarchisten“ von Großwelzheim. Das ist natürlich längst Geschichte. Dass man zusammengehört, ist klar.
Aber jenseits der Brücke, im Bundesland, wohin der Weg noch viel kürzer als in den Nachbarort ist? Demnächst wird gewählt: In Bayern und Hessen gleichzeitig. Welche Partei man bekommt und welche Regierung, hängt hier also auch davon ab, auf welcher Seite man wohnt. Da machen ein paar Meter den Unterschied. Wie geht es den bayerischen Hessen und hessischen Bayern damit?
Früher kam man nur mit einer Fähre über den Fluss. Dann haben die Mainflinger dafür gesorgt, dass die Brücke gebaut wurde, mit finanzieller Hilfe der Landesregierung in Wiesbaden. Zehn Prozent zahlen die Dettinger jedes Jahr von der Instandhaltung. Manche Mainflinger finden, es könnte mehr sein. Die Dettinger galten früher als eingebildet, weil es in Dettingen einen Bahnhof gibt und Eisenbahner feine Leute waren. Andererseits kommt hinter Mainflingen Seligenstadt, dann Offenbach, dann Frankfurt. Und ist Frankfurt nicht der Nabel der Welt?
„Ohne den Mainflingern zu nahe treten zu wollen“, sagt der Dettinger Wolfgang König: Auf der Brücke hätte sich doch schnell bewiesen, wer dringender in welche Richtung unterwegs sei. Auf seiner Seite sei ja der Spessart, auf der anderen nur flaches Land. Außerdem kämen die Hessen zum Biertrinken. Allerdings ist König Vorsitzender des Geschichtsvereins im Ort und unter Umständen voreingenommen. Noch sind Ferien in Bayern. Da steht im Sonnennachmittag das Heimatmuseum an der Ecke, und König, ein Mann mit Schnauzer und gutem Musikgeschmack, hört auf seinem Handy Deep Purple. „König, Wolfgang“ sagt er zur Vorstellung. Das klingt nun doch nach Bayern. König benutzt aber auch Worte wie „Spektakulum“. Außerdem ist er erst 1984 in den Ort gezogen, also ein „Reingeplackter“.