Man musste die übrigen Gäste von Maybrit Illner dafür bewundern, dass sie die Fassung wahrten angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die Sahra Wagenknecht in der vergangenen Woche in der ZDF-Talkshow von sich gab. „Viele zivile Opfer in der Ukraine entstehen auch dadurch, dass Raketen abgefangen werden und die Trümmerteile in zivile Gebiete fallen“, sagte sie und bezog sich dabei auf das kurz zuvor zerstörte Kinderkrankenhaus in Kiew: „Auch bei dem Kinderkrankenhaus waren die ersten Meldungen, dass das auch herunterfallende Trümmerteile waren“. Nach vertrautem Muster legte sich Wagenknecht nicht fest, die Botschaft wurde dennoch transportiert: Schuld an den zivilen Opfern ist die Ukraine selbst. Was implizit auch heißt: Dagegen, dass Russland mit Raketen die Infrastruktur des Landes zerbombt, sollte sich die Ukraine besser nicht wehren. Und der Westen ihr keine Waffen liefern.
Es war ein Glück, dass Illner auch Gäste eingeladen hatte, die Wagenknecht gewachsen waren. Besonders tat sich die Militärexpertin Claudia Major hervor. Ruhig, aber bestimmt stellte sie fest, dass sich die von Wagenknecht zitierten Meldungen als unwahr erwiesen hatten, was Wagenknecht wiederum mit Allgemeinplätzen in Zweifel zu stellen suchte. „Ich kenne die Situation nicht, ich weiß nur, dass im Krieg von allen Seiten gelogen wird. Es kann sein, dass die Russen lügen, es kann sein, dass die Ukrainer lügen.“
Wagenknecht scheint mit sich zufrieden
Mit nonchalanter Menschenverachtung tat sich Wagenknecht auch hervor, als der Grünen-Parteivorsitzende Omid Nouripour auf Verschleppungen, Vergewaltigungen und Folter durch russische Soldaten zu sprechen kam. „Das sind alles Verbrechen, die in einem Krieg geschehen“, sagte sie leichthin. Wagenknechts Vorgehen hat Methode. Und die ist infam.
Am Ende der Sendung sah Wagenknecht schlecht wie selten aus: ihre Zahlen zu Rüstungsausgaben als falsch entlarvt, ihre Kenntnisse in Militärfragen als mangelhaft, ihr Pazifismus als hohl und ihr Blick auf die ukrainischen Opfer als zynisch. Die Waffenverteilung in der Debatte spiegelte in gewisser Weise die Gefechtslage in der Ukraine wider: Mit defensivem Argumentationspräzisionsgerät ging Major gegen die Zweifelsstreubombenwerfer vor, die Wagenknecht aus Putins Propagandafabrik bezogen hat. Majors Erfolg war allerdings durchschlagender als jener der Ukrainer gegen die Russen.
Zumindest unter Zuschauern, die bei Sinnen sind. Doch Wagenknecht selbst scheint mit ihrer Performance bei Illner durchaus zufrieden gewesen zu sein, wie Äußerungen auf X nahelegen, in denen sie sich über die Transatlantiker mokierte, mit denen sie es zu tun gehabt habe. Was nur den Schluss zulässt, dass Wagenknecht sich sicher ist, mit ihrer antiamerikanisch grundierten Argumentation bei der eigenen Klientel durchzudringen.
Tatsächlich ist frappant, wie fruchtbar der Boden insbesondere in Ostdeutschland ist, auf den Wagenknechts putinophile Saat fällt. Es fehlt nicht an Erklärungsansätzen für den Hang vieler Ostdeutscher, nachsichtig bis blind gegenüber der gnadenlosen Kriegstreiberei des russischen Präsidenten zu sein. Bei manchen wirkt offenbar die Legende von der Völkerfreundschaft nach, die zwischen der DDR und der Sowjetunion offiziell gepflegt und hier und da nicht nur als Popanz empfunden, sondern tatsächlich gelebt wurde.
Biographische Brüche wirken bis heute nach
Manches in dieser zumeist durch Fremdheit bestimmten Beziehung zwischen den Soldaten der Besatzungsmacht und der einheimischen Bevölkerung wird im Nachhinein idealisiert, was sich in die gerade angesagte, nachträgliche Idyllisierung des Lebens in der DDR einfügt. Es ist ein Lied, das nicht nur die Alten im Osten singen. Auch der Mythos des unbezwingbaren Russlands, mit dem man sich besser nicht anlegt, ist aus naheliegenden Gründen im Osten stärker als im Westen.
Dann sind da konkrete wirtschaftliche Verlusterfahrungen: Betriebe, die bis kurz nach der Wende florierende Wirtschaftsbeziehungen in die Sowjetunion unterhielten, fielen dem großen Umbruch zum Opfer, aus Sicht vieler Ostdeutscher unnötigerweise. Drei Jahrzehnte später wiederholte sich das Szenario in abgewandelter Form: vor allem im Osten sahen sich Firmen durch die Sanktionen gegen Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine in ihrer Existenzgrundlage getroffen. In der Ära Merkel waren entsprechende industrielle Strukturen vor allem in der Energiewirtschaft noch aufgebaut worden.
Stärker in die Breite wirken psychologische Effekte: Die biographischen Brüche, die viele Ostdeutsche im Zuge der Wiedervereinigung erlitten haben und deren Ausmaß im Westen nie wirklich begriffen wurde, hallen nach. Dirk Oschmann hat in seinem Bestseller über den Osten die Konsequenzen dieser Erfahrungen, die sich bis heute etwa in Form schlechterer Karrierechancen fortsetzen, in weiten Teilen plausibel analysiert. Sie lassen sich leicht mit der Erzählung von der angeblichen Zurücksetzung, die Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch den Westen erfahren hat, verbinden. Auf diese Weise entsteht ein paralleles Opfernarrativ von Russland und Ostdeutschland – eine Art Stockholm-Syndrom, das aber erst nach Ende der Geiselnahme einsetzte.
Deshalb dürfte auch der Umstand, dass im Westen zuverlässig für Empörung sorgt, wer freundlich über Russland spricht, manche Polemik noch befeuern. Das ist auch ein Grund, warum die AfD in das gleiche Horn stößt wie das BSW. Für Nachgeben gegenüber Putin zu sein bedeutet immer auch, gegen die verhassten etablierten Parteien zu sein, die sich bemerkenswert rasch und geschlossen zu einer klaren Haltung im Ukrainekrieg aufgerafft haben (Rolf Mützenich und Konsorten einmal außer Acht gelassen).
Dem Einwand, sie seien bereit, die Ukraine zu opfern, begegnen BSW und AfD mit dem Argument, sie sprächen für den angeblich großen Teil der ukrainischen Bevölkerung, der sich nach Frieden sehne und den Kampf ablehne, was sich an der hohen Zahl von jungen Männern unter den Flüchtlingen nach Deutschland zeige. Aus dieser Unwahrheit ergibt sich eine absurd-niederträchtige Schlussfolgerung: Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel forderte Bundestagsabgeordnete, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, unlängst im ZDF-Sommerinterview dazu auf, selbst an die Front zu ziehen. Ganz ähnlich äußerte sich Fabio De Masi, der gerade als Spitzenkandidat des BSW ins Europaparlament eingezogen ist, als er meinte, dass der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter seine Söhne an die Front schicken solle.
Die Antirhetoriker Olaf Scholz und Angela Merkel
Dass die Bejahung der Putin’schen Amoralität und die Aneignung seiner offenkundigen Propagandalügen durch AfD und BSW bei vielen Menschen verfängt oder sie zumindest nicht verschreckt, ist auch an der hohen Zustimmung für beiden Parteien in Umfragen abzulesen. In Ostdeutschland addieren sich ihre Stimmenanteile teilweise auf annähernd 50 Prozent, im gesamten Land immerhin auf 27 Prozent.
Die CDU steht angesichts der anstehenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern vor einer heiklen Aufgabe. In Thüringen und Brandenburg flirtet sie schon offen mit dem BSW, weil diese Konstellation nach Lage der Dinge die einzige Mehrheitsbildung ohne Beteiligung der AfD verheißt. Nun ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer schon länger durch Appeasement gegenüber Russland aufgefallen.
Neu und überraschend aber ist, dass Friedrich Merz seinen Parteifreunden Geleitschutz gewährt, indem er der ostdeutschen Friedenssehnsucht entgegenkommt und die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine infrage stellt. Nicht nur Kiesewetter dürfte sich fragen, wie sein Parteivorsitzender mit künftigen Ausfällen von Wagenknecht umgehen wird, falls die CDU tatsächlich mit dem BSW in Thüringen regieren sollte. Der Hinweis darauf, dass in den Ländern nicht über die Sicherheitspolitik entschieden wird, wird dann nicht reichen.
Bleibt die Frage, ob jene recht haben, die Illner und Verantwortliche anderer Talkshows dafür kritisieren, dass sie Wagenknecht in ihre Sendungen eingeladen haben und diese dort ihre Irrlehren vor einem Millionenpublikum ausbreiten konnte. Diese Überlegung übersieht, dass Talkshows dem Genre der politischen Unterhaltung zuzurechnen sind. Sie brauchen Personal, das abweichende Meinungen eloquent vertritt – umso mehr, wenn die Haltungen der übrigen Gäste sehr nahe beieinanderliegen. Talkshows sollen zudem nicht bestimmte politische Meinungen machen, sondern vielmehr die politischen Meinungsbildung befördern.
Den Zuschauer vor bestimmten Einstellungen schützen zu wollen entspringt dagegen einer volkspädagogischen Geisteshaltung, die den Verdruss vieler erst schürt, gerade in Zeiten, in denen das Versagen der Regierung auf vielen Gebieten offensichtlich ist. Es ist nicht zuletzt den Antirhetorikern Olaf Scholz und seiner Vorgängerin Angela Merkel vorzuwerfen, dass sie die Unlust an Debatten zum Markenzeichen der Exekutive gemacht haben.
Damit hängt womöglich zusammen, dass immer wieder schlecht vorbereitete und rhetorisch schwache Vertreter der Regierung in die Talkshows geschickt werden. Besonders krass war die Niederlage, die ausgerechnet der Ostbeauftragte Carsten Schneider im Januar in einer Debatte über Protestbewegungen mit der gut vorbereiteten Wagenknecht in der Talkshow „Hart, aber fair“ erlitt.
Im übrigen würde eine Ausgrenzung aus den Talkshows wenig nützen, da es längst effektive Kanäle politischer Kommunikation außerhalb des klassischen Fernsehens gibt. Es hilft nichts: Demokraten müssen mit guten Argumenten überzeugen, die sie verständlich vortragen. Die jüngste Illner-Sendung hat gezeigt, dass das geht.