Weit oben in der evangelischen Kirche ist von einer „gespenstischen Stimmung“ und einer „dramatischen Lage“ die Rede. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, wird derzeit von einem mutmaßlichen Missbrauchsfall in ihrem persönlichen Umfeld eingeholt. Ein Kirchenmitarbeiter aus Siegen soll junge Männer zu sexuellen Handlungen gedrängt haben. Die „Siegener Zeitung“ berichtet, dass Kurschus schon lange von den Vorwürfen weiß.
Am Dienstagabend gibt die 60 Jahre alte Theologin dazu eine außerplanmäßige Erklärung vor der in Ulm versammelten EKD-Synode ab. Begleitet von freundlichem Applaus der Kirchenparlamentarier tritt Kurschus sichtlich belastet von den Vorwürfen ans Pult. „Es wabert ja schon durch die Gänge“, sagt sie.
Es gebe Missbrauchsvorwürfe in dem Kirchenkreis, in dem sie „über Jahrzehnte als Pfarrerin, später auch als Superintendentin“ tätig gewesen sei. Die beschuldigte, inzwischen im Ruhestand befindliche Person „kenne ich gut, ich kenne sie sogar sehr gut, jedenfalls dachte ich das“. Sehr eindringlich hebt Kurschus hervor, dass sie aus rechtlichen Gründen nichts äußern dürfe, anhand dessen der Beschuldigte identifiziert werden könne. An der Schwere der mutmaßlichen Taten lässt sie keinen Zweifel: „Was dieser Person vorgeworfen wird, ja was Betroffenen wohl durch diese Person angetan wurde, ist entsetzlich.“
„Ich prüfe mich intensiv“
Die „Siegener Zeitung“ berichtet unter Berufung auf mutmaßliche Betroffene von Näheverhältnissen, die durch den Verdächtigen instrumentell genutzt wurden, von sexuellen Handlungen in Kirchenräumen und von „den alten Griechen“, bei denen dies unter Männern üblich gewesen sei. Mit anderen Worten: Es geht um das spezifische Profil eines protestantischen, bildungsbürgerlich umflorten Missbrauchs.
Und dann soll da auch noch ein Gespräch im Garten von Annette Kurschus Ende der Neunzigerjahre gewesen sein, von dem die „Siegener Zeitung“ am Dienstagnachmittag berichtet. Neben der heutigen EKD-Ratsvorsitzenden soll an dem Gespräch auch noch eine weitere Pfarrerin teilgenommen haben sowie vier Männer, darunter ein mutmaßliches Opfer. In dem Gespräch sei Kurschus über die Missbrauchsvorwürfe informiert worden.
Kurschus versichert am Dienstagabend vor der Synode, es handele sich bei dem Zeitungsbericht lediglich um „Andeutungen und Spekulationen“, die sie „mit Nachdruck“ zurückweise. „Da ist von einem Gespräch im Garten die Rede“, sagt Kurschus und blickt tastend in den Saal. „Ich prüfe mich, ich prüfe mich intensiv – habe ich etwas überhört? Habe ich etwas übersehen? Gibt es da ein Missverständnis? Ich kann nur sagen: Diese angedeuteten Vorwürfe befremden mich absolut.“
Die EKD-Ratsvorsitzende hebt auch noch einmal hervor, dass sie bekannt dafür sei, sich mit Nachdruck für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt einzusetzen. Sie wiederholt auch das Wort von der „Chefinnensache“, zu dem sie das Thema Missbrauch machen wolle. Diesen Begriff hat sie nach ihrer Wahl im Herbst 2021 benutzt. „Ich meine das sehr ernst“, beteuert Kurschus am Dienstagabend. Dann beendet sie ihr Statement und bietet den Synodalen an, „Fragen aus Ihrer Runde zu beantworten“. Wieder Applaus. Und dann ein Moment des Schweigens.
Zunächst meldet sich kein Mitglied der Synode, die nun unversehens in die Rolle des Aufklärers in kircheneigener Angelegenheit rutscht. Drei Kirchenparlamentarier stehen dann doch auf. Die letzte von ihnen fragt, ob die Berichterstattung denn zutreffe, dass Kurschus Patentante eines Kindes des Beschuldigten gewesen sei. Kurschus sagt, auch dazu könne sie aus rechtlichen Gründen nichts sagen. Auf den Fluren vor dem Saal wird das Patenamt zu diesem Zeitpunkt längst bestätigt.