Es ist eine Blase, in der sich Jugendliche auf Tiktok bewegen. Eine, die so wirken kann, als wäre sie die gesamte Welt. Dabei ist die „Für Dich“-Startseite stark personalisiert und eröffnet jedem Nutzer eine etwas andere Welt. Schuld ist der Algorithmus, dessen oberstes Ziel es ist, möglichst viel Reichweite zu erzielen.
Was aber, wenn die Welt, in die er führt, extremistisch ist? Wenn der Algorithmus immer mehr antisemitische und rechtsextreme Videos auf die Startseite von Jugendlichen spült? Diese Fragen könnten Tiktok zum Verhängnis werden. Im Februar hat die EU-Kommission ein förmliches Verfahren gegen die Plattform eingeleitet, unter anderem um zu prüfen, inwiefern der Algorithmus Jugendliche in eine extremistische Blase, ein sogenanntes „Rabbit Hole“, führt.
Die AfD erreicht Millionen Nutzer
Dabei ist eines klar: Tiktok ist heute mehr als ein Netzwerk für unterhaltsame Tanzvideos. Längst haben sich Rechtsextremisten und radikale Islamisten dort breitgemacht, wo Jugendliche nach Informationen suchen. Für sie ist Tiktok ein Leitmedium. Das zeigen auch die Zahlen: 20,9 Millionen aktive Nutzer in Deutschland und mehr als eine Milliarde Nutzer weltweit. 70 Prozent davon sind zwischen 16 und 24 Jahre alt. Erlaubt ist die Plattform ab einem Alter von 13 Jahren.
Doch der Tiktok-Algorithmus begünstigt Terrorpropaganda, Falschinformationen und Hassrede. Insbesondere antisemitische Inhalte sind seit dem 7. Oktober erfolgreicher denn je, wie ein Report zeigt, den die Bildungsstätte Anne Frank im Februar veröffentlicht hat. Die Videos verbreiten nicht nur antisemitische Verschwörungstheorien, sondern zeigen teils körperliche Gewalt gegen Juden. Tiktok löscht diese expliziten Gewaltdarstellungen zwar, doch meistens erst, nachdem die Videos bereits viral gegangen sind. Damit ist die Plattform der ideale Nährboden für Extremisten aller Art, die sich zunächst einfach in die endlose Kurzvideoschleife einfügen können.
Das nutzen auch AfD-Politiker. Ihre Videos erreichen oft mehrere Millionen Nutzer. Sie ist mit Abstand die erfolgreichste deutsche Partei auf Tiktok. Für Jugendliche könnte das zum Problem werden, erklären die Psychoanalytiker Cécile Loetz und Jakob Müller, die sich in ihrem Podcast „Rätsel des Unbewussten“ unter anderem mit modernen Mitteln der Propaganda beschäftigt haben. Im Fall von Tiktok beobachten sie dabei zunächst eine gruppenpsychologische Dynamik: Jugendliche könnten sich durch die Plattform einer Gruppe zugehörig fühlen, in der eine ganz bestimmte, sich durch den Algorithmus wiederholende Meinung vertreten wird. Und das in einer Phase, in der die Fragen nach Zugehörigkeit und der eigenen Identität extrem wichtig sind.
Sie tun, als wüssten sie mehr als alle anderen
Für junge Menschen sei es dann besonders schwer, von dieser Meinung und ihren Regeln abzuweichen: „Man müsste sich gegen die Gruppe stellen und läuft Gefahr, der Dumme oder der Spießer zu sein“, sagt Loetz. Deshalb sei es zunächst einmal viel konfliktfreier, sich der Meinung anzuschließen. „Vor allem, wenn man selbst noch keine festen Einstellungen hat“, erklärt Müller. Hinzu kommt die Rhetorik der Videos, durch die ein absoluter Wahrheitsanspruch vermittelt werden soll. Andere Meinungen werden so automatisch diskreditiert – ein klassisches Mittel der Propaganda.