Die Europäische Zentralbank (EZB) erwartet jetzt fürs kommende Jahr eine Inflationsrate von weniger als 3 Prozent: Das war eine zentrale Botschaft der Notenbank am Donnerstag. Sie hat ihre Inflationsprognose deutlich gesenkt, vor allem wegen der Energiepreise. Wie die amerikanische Notenbank Federal Reserve, die Bank of England und die Schweizerische Nationalbank lässt die EZB ihre Zinsen unverändert.
In der Pressekonferenz nach der Zinsentscheidung war EZB-Präsidentin Christine Lagarde sichtlich bemüht, die Euphorie der Finanzmärkte bezüglich bald sinkender Zinsen einzufangen. Der EZB-Rat habe über Zinssenkungen nicht einmal diskutiert“ – und zwischen Erhöhen und Senken liege ein „ganzes Plateau von Halten“, sagte Lagarde.
Gestrichen wurde aus der EZB-Sprachregelung, dass die Inflation „zu lange zu hoch“ bleiben werde. Vielmehr erwarte die Notenbank nun, dass die Inflation „im Laufe des Jahres allmählich zurückgeht, bevor sie sich im Jahr 2025 dem 2-Prozent-Ziel des EZB-Rats annähert.“
Leichte Bewegung am Aktien- und Anleihemarkt
Was heißt das alles nun für Anleger? Der deutsche Aktienindex Dax, der auf die Nachrichten aus Amerika mit konkreten Ankündigungen für Zinssenkungen sehr positiv reagiert hatte und über die Marke von 17.000 Punkten gestiegen war, gab mit dem EZB-Zinsentscheid etwas nach.
Der Markt habe sich von EZB-Präsidentin Christine Lagarde „ähnlich erlösende Worte“ erhofft wie zuvor von Fed-Chef Jerome Powell, sagte Christian Henke vom Broker IG: „Doch die EZB-Chefin blieb eisern und erteilte den Forderungen nach einer Zinssenkung eine klare Abfuhr.“
Am Rentenmarkt sanken die Renditen amerikanischer Staatsanleihen mit zehn Jahren Laufzeit nach der Fed-Entscheidung von 4,2 auf 3,9 Prozent. In Europa folgten die Bundesanleihen zunächst ihren amerikanischen Pendants, erholten sich mit der EZB-Entscheidung aber wieder bis auf 2,12 Prozent.
Die Analystenkommentare am nächsten Tag reichten von „eine Enttäuschung“ über „eine recht milde Entscheidung“ bis hin zu „die EZB sollte den Absprung nicht verpassen“.
So richtig funktioniert zu haben scheint der Versuch der EZB, den Finanzmärkten die Spekulationen auf Zinssenkungen auszutreiben, jedenfalls nicht. Die aus den Finanzmärkten abzulesenden Zinserwartungen verringerten sich nur sehr leicht. Und die Commerzbank teilte sogar mit, sie habe ihre Zinsprognosen zugunsten früherer Zinssenkungen revidiert: Sie rechne jetzt im Juni 2024 mit einer ersten EZB-Zinssenkung, statt im Dezember.
Die EZB hat auch Veränderungen zu ihrem Corona-Krisenprogramm PEPP angekündigt. Im neuen Jahr werde sie zwar bis Ende Juni alle auslaufenden Anleihen noch ersetzen, danach aber nur noch einen Teil. So sollen die Bestände im Schnitt um 7,5 Milliarden Euro je Monat sinken. Zum Jahresende will sie das Nachkaufen dann ganz einstellen. Das sei tendenziell ein vorsichtigerer Ansatz als die meisten befürchtet hätten, meinte Frederik Ducrozet von der Bank Pictet.
„Eingepreiste Erwartungen an den Märkten überzogen“
Die Äußerungen von Fed-Chef Powell seien „taubenhaft“ interpretiert worden, also als Signale für eine lockere Geldpolitik, die von EZB-Präsidentin Lagarde „falkenhaft“, also eher als Absage einer solchen, sagte Ulrich Stephan, Chefanlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Firmenkunden. In den Vereinigten Staaten würden nun sechs Zinsschritte zu 25 Basispunkten nach unten vom Markt eingepreist. Auch für Europa rechne der Markt momentan mit sechs Zinssenkungen auf 2,5 Prozent.
„Ich halte die Erwartungen einer derart lockereren Geldpolitik für überzogen“, sagte Stephan. Entsprechend könnten Enttäuschungen für die Märkte drohen. Das gelte sowohl für die Anleihe- als auch für die Aktienmärkte. „Denn die Märkte haben in den vergangenen Wochen diese deutlichen Zinssenkungen vorweggenommen und sowohl bei Anleihen als auch bei Aktien für Kursgewinne gesorgt“, sagte Stephan: „Sollte es zu einer Korrektur kommen, sollten Anleger die Gelegenheit nutzen und in den Markt einsteigen.“
Auch wenn die Inflationsraten derzeit unerwartet stark zurückgingen und zwischenzeitlich „in den negativen Bereich rutschen“ könnten, sei es nicht sinnvoll, sich als Anleger jetzt vorsichtshalber auf Deflationsgefahren einzustellen und sich dagegen abzusichern, meinte Reinhard Pfingsten, der Chefanlagestratege der Apotheker- und Ärztebank: „Die strukturellen Effekte wie Demographie, Deglobalisierung und Dekarbonisierung werden die Inflation eher etwas höher und die Realrenditen niedrig halten.“