Um zu wissen, wie es um Christian Lindner in diesem Jahr steht, muss man vielleicht zurückgehen bis zum vorigen Sommer. Es war ein lauer Sommerabend auf der Dachterrasse eines Hotels im beschaulichen Heidelberg. Lindners Kollege aus dem Wirtschaftsressort, der grüne Vizekanzler Robert Habeck, ließ gerade den ersten Tag seiner Sommerreise mit ein paar Journalisten ausklingen.
Da erschien auf einmal der Ökonom Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, eine Aufsichtsratssitzung hatte ihn an den Neckar geführt. Ohne Unterlass redete er auf Habeck ein: wie schlimm die Schuldenphobie des Finanzministers doch sei, warum dieser Christian Lindner partout nicht einsehen wolle, dass die klimagerechte Transformation der deutschen Wirtschaft aus den Steuergeldern einer einzigen Generation nicht zu finanzieren sei.
So war schon seit Längerem die Lage unter Ökonomen und Politikern, Unternehmern und Journalisten. Die einen hielten Lindner mit seinem Sparkurs für den Totengräber der deutschen Infrastruktur, den Verantwortlichen für Bahnchaos, Funklöcher und Bildungsdebakel. Die anderen fanden es richtig, das Geld beisammenzuhalten, kreideten Lindner aber die vielen Schuldentöpfe an, die er zur Umgehung der Schuldenregeln bereits angerührt hatte. Jedenfalls blieb er eine der umstrittensten Figuren der deutschen Politik.
Nicht vorbereitet
Dann kam der 15. November, der Tag, an dem das Verfassungsgericht das Umwidmen von Kreditermächtigungen aus der Corona-Zeit für künftige Klimaprojekte und Chipfabriken für verfassungswidrig erklärte. Die Nachricht traf den Finanzminister so unvorbereitet wie den Kanzler und den Vizekanzler. In der Regierung hatten sie zwar gerätselt, was denn der Verkündungstermin zu bedeuten habe, einen Tag vor der abschließenden Sitzung des Haushaltsausschusses für den Etat 2024. Irgendwann setzte sich aber die Ansicht durch, dass beides nichts miteinander zu tun habe, dass die Richter der Politik noch immer Übergangsfristen eingeräumt hätten – und dass man theoretische Szenarien ohnehin nicht vorbereiten könne, ohne dass die Öffentlichkeit davon erführe.
Umso verdatterter stellte sich Lindner gemeinsam mit Scholz und Habeck an jenem Mittwochmittag im Kanzleramt vor die Fernsehkameras, nach einer kurzen Beratung mit den Chefs der Bundestagsfraktionen. Ziemlich blass sahen sie alle drei aus. Die Regierung habe gehandelt, „wie wir es nach bestem fachlichen Rat für verfassungsrechtlich verantwortbar gehalten haben“, rechtfertigte sich Lindner – und fügte hinzu: „Die Beratung des Etatentwurfs 2024 ist nach unserer aktuellen Einschätzung nicht von dem Urteil betroffen.“ Es dauerte dann noch eine Woche, bis sich die Einschätzung nicht mehr als aktuell erwies.
Das Urteil entzog der Koalition die Geschäftsgrundlage: Schuldenbremse gegen Geld für Soziales und Klimaschutz. Im Grunde müssen die Koalitionsverhandlungen jetzt neu geführt werden, allerdings unter weniger freundlichen Bedingungen als vor zwei Jahren.
Sparvorschläge ließen nicht lange auf sich warten
Der Finanzminister und seine Leute in der FDP wechselten schnell die Tonlage. Das Urteil habe die Partei und ihren Vorsitzenden doch im Beharren auf solider Haushaltsführung bestätigt, hieß es nun. Öffentliche Sparvorschläge folgten bald, vor allem im Sozialen, beim Bürgergeld. Ausgerechnet als Olaf Scholz am ersten Dezemberwochenende nach Dubai reiste, um Geld gegen die Erderwärmung zu versprechen, brachte Lindner auch noch Sparpotentiale beim internationalen Klimaschutz ins Spiel.