Börsenrekorde sind eine feine Sache. Sie heben die Laune, denn sie erfreuen Aktionäre und Unternehmen. Börsenrekorde verleiten allerdings auch dazu, nicht so ganz genau hinzuschauen. Wer will anderen schon die Champagnerlaune verderben, wenn es doch gerade offensichtlich sehr gut läuft?
Thomas Schweppe wagt es trotzdem. Früher war er einer der wichtigsten europäischen Manager bei der Investmentbank Goldman Sachs, heute ist er Chef der von ihm gegründeten Beratungsfirma 7Square. Wenige hierzulande kennen die europäischen Kapitalmärkte so gut wie Schweppe. Darum hat es Gewicht, wenn er sagt: „Auch wenn der Dax in den vergangenen Tagen einen Rekord nach dem nächsten erzielt hat, ändert das eines nicht – Europa ist dabei, dauerhaft den Anschluss an Amerika zu verlieren.“
Die aktuellen Höchststände verdecken nämlich den Blick auf eine langfristige Entwicklung, die frappierend ist, wenn man sie in Zahlen ausdrückt: Von Anfang 2009 bis heute hat das amerikanische Aktienbarometer S&P 500 rund 470 Prozent an Wert gewonnen. Im gleichen Zeitraum hat der europäische Aktienindex Euro Stoxx 50, der die wichtigsten Werte des Euroraums abbildet, gerade einmal 100 Prozent an Wert zugelegt. Eine Diskrepanz, die sich übrigens auch dann bestätigt, wenn man andere europäische Aktienbarometer heranzieht, die mehr Mitglieder haben als der Euro Stoxx 50 mit seinen 50 Unternehmen. An der Börse ist Amerika Europa also weit enteilt.
Doch es ist nicht einfach nur dem Zufall oder einer Laune des Schicksals geschuldet, dass große Technologiekonzerne wie Apple, Amazon & Co. in den Vereinigten Staaten entstanden sind und für einen großen Teil der amerikanischen Börsenrally verantwortlich zeichnen. Nein, für den Rückstand Europas gibt es handfeste Gründe. Und wenn nicht bald einiges geschieht, besteht die Gefahr, dass sich der Abstand weiter verfestigt. Der Kontinent könnte im schlimmsten Fall auch in den nächsten zehn Jahren an der Börse dauerhaft abgeschlagen bleiben.
Natürlich müsste das nicht sein. Virginie Maisonneuve, Chefanlegerin der Fondsgesellschaft Allianz Global Investors, sagt: „Gemessen am intellektuellen Kapital, über das wir in Europa verfügen, sind europäische Firmen an den Finanzmärkten unterrepräsentiert.“ Dabei habe Europa in seiner Geschichte ja bewiesen, was es könne. „Immerhin nahm die Industrielle Revolution hier ihren Anfang.“ Es erscheint auf den ersten Blick seltsam, so lange zurückzublicken, doch auch Investmentberater Schweppe findet, dass man sich von den alten Zeiten etwas abschauen könne. „Damals gab es die grundsätzliche Bereitschaft, ins Risiko zu gehen und etwas zu wagen. Davon kann heute in vielen Fällen keine Rede mehr sein.“
Die Angst vor Fehlern
Was Schweppe stört, ist Folgendes: In Deutschland, dem wichtigsten Kapitalmarkt des Kontinents, gibt es zwar viele Unternehmen, die sich angesichts ihrer beeindruckenden Historie rühmen können, bereits so gut wie alles überstanden zu haben – sogar zwei Weltkriege. „Viele Manager wollen aber primär keine Fehler machen“, klagt Schweppe. „Sie verwalten lieber, als dass sie den Mut hätten, echte unternehmerische Entscheidungen zu treffen.“