Hätte Edward John Smith weiter vorausblicken können, ein leichtes Drehen am Steuerrad hätte gereicht. Doch der Kapitän der Titanic sah den Eisberg zu spät, als dass er den Kurs seines Schiffes noch hätte ändern können. Die Lehre aus dem Untergang des seinerzeit größten Passagierschiffs der Welt liest sich wie eine Binse: Wer Gefahren ausweichen will, muss sie früh erkennen und rechtzeitig reagieren.
Eine wichtige Rolle hierbei spielt heute die Wissenschaft. Sie soll Risiken identifizieren, präventive Maßnahmen vorschlagen und im besten Fall Lösungen entwickeln. Letzteres ist in der Covid-Krise mit der schnellen Entwicklung von Impfstoffen eindrucksvoll gelungen. Für die Prävention galt das allerdings weniger.
Gut vorbereitet auf den Ernstfall einer sich global verbreitenden Zoonose waren weder Wissenschaft noch Politik noch Behörden. Die Pandemie hat die Welt kalt erwischt und viele Erkenntnis- und vor allem Umsetzungsdefizite sichtbar gemacht. In Deutschland zeigte sich etwa, wie sehr eine Dateninfrastruktur fehlt, die beispielsweise einen Intensivbettenausgleich, Impfregister oder ein effektives Teilen von relevanten medizinischen Informationen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor ermöglichen würde.
Einschneidende Veränderungen stehen bevor
Die Politik und das Wissenschaftssystem in Deutschland müssen sich besser für Krisen rüsten. Dabei muss die Wissenschaft selbst mit einschneidenden Veränderungen umgehen: Erstmals seit langer Zeit sinkt der Etat des Bundesforschungsministeriums. Auch wenn der Bundesregierung Investitionen in Forschung und Entwicklung weiterhin wichtig sind und diese nicht nur über den Haushalt des Forschungsministeriums laufen, könnten die Zeiten stetiger Aufwüchse angesichts steigender Kosten im Kampf gegen die Folgen des Klimawandels und höherer Sicherheitsausgaben absehbar vorbei sein.
Hinzu kommt der demographische Wandel, der mit sinkenden Studierendenzahlen und somit mit einem zukünftigen Fachkräftemangel auch in der Wissenschaft einhergeht. Weitere Probleme sind beispielsweise die drohende digitale Abhängigkeit von globalen Konzernen, der Umgang mit dem erklärten Systemkonkurrenten China und die Standortkonkurrenz überhaupt, in der Deutschland und Europa an Gewicht verloren haben.
Es gilt also, nicht nur einen, sondern gleich mehrere Eisberge zu umschiffen. Wie Ozeanriesen reagieren komplexe Systeme nur mit einiger Verzögerung auf Steuerimpulse. Kurskorrekturen müssen deshalb rasch und mit Weitsicht erfolgen. So könnte der Aufbau ausreichender deutscher und europäischer Rechenkapazitäten die digitale Abhängigkeit verringern und Europa als Standort für Künstliche Intelligenz stärken. Qualität und Effizienz der Lehre müssen verbessert und eine Karriere in der Wissenschaft muss attraktiver werden.
Paradigmenwechsel im Gesundheitssektor
Im Gesundheitssektor könnte ein Paradigmenwechsel von der reparierenden zur präventiven Medizin nicht nur Qualität erzeugen, sondern Kosten senken. Helfen könnte auch KI, die eingesetzt wird, um aufwendige und teilweise monotone Arbeitsprozesse in Forschungseinrichtungen effizienter zu machen und damit mehr Raum zu schaffen für kreative Forschung. Das System muss insgesamt flexibler und wendiger werden. Bürokratieabbau statt Regelmaximierung muss das Leitmotiv sein.
Der Wissenschaftsrat arbeitet aktuell an entsprechenden Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems. Man braucht keine Glaskugel, um vorherzusehen, dass, wie schon in der Vergangenheit, nicht die Menge kluger Ideen die kritische Ressource sein wird, sondern ihre Umsetzung trotz angespannter Haushalte.
Deshalb müssen unabhängig von den zugesagten prozentualen Etatzuwächsen Wissenschaft und Politik nach Wegen suchen, die vorhandenen Mittel für die Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen intelligent und effizient zu nutzen.
Wir müssen in Qualität und Kreativität investieren sowie in jene Zukunftsfelder, auf denen Deutschland und Europa nicht abgehängt werden dürfen, sondern führend sein sollten. Denn nur ein starkes und international konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem kann seiner Rolle gerecht werden, bei der Bewältigung von Krisen zu helfen oder, besser noch, ihnen vorzubeugen.
Der Autor ist Geschäftsführender Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg und Vorsitzender des Wissenschaftsrates.