Drohen Millionen von Dieselfahrern bald Fahrverbote? Darüber gehen die Einschätzungen zwischen Brüssel und Berlin weit auseinander. Sie liefern Anlass für einen neuen Streit darüber, wie hart die Brüsseler Vorgaben zum Klimaschutz in das Fahrverhalten deutscher Autokunden eingreifen. Schon um die geplante Regulierung klimaschädlicher Verbrenner-Motoren ab 2035 gibt es heftige Auseinandersetzungen. Jetzt wirft Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) der EU-Kommission vor, die Schadstoffgrenzwerte bei Euro-5-Diesel-Kraftfahrzeugen zu verschärfen, und schlägt Alarm: In Briefen an die EU-Kommission und an seine Amtskollegen in den EU-Mitgliedstaaten pocht er auf eine „Klarstellung“ in den EU-Vorschriften, um „schwerwiegende Folgen für Millionen von betroffenen Bürgern sowie die europäische Wirtschaft zu vermeiden“.
Details über die gewünschte Klarstellung gibt es derzeit noch nicht. Verkompliziert wird die Situation auch dadurch, dass es nicht die EU-Kommission wäre, die mögliche Fahrverbote verhängt. Anlass ist vielmehr ein Verfahren vor dem Europäische Gerichtshof (EuGH).
Die EU-Kommission widerspricht
Die EU-Kommission hat am Wochenende der Darstellung von Wissing (FDP) widersprochen, sie wolle die Vorschriften zur Einhaltung von Schadstoffgrenzwerten bei Autos nachträglich ändern und nehme damit eine Stilllegung von Millionen Dieselfahrzeugen in Kauf. Binnenmarktkommissar Thierry Breton schrieb in einem Brief an Wissing, seine Behörde plane keine rückwirkenden Änderungen. Auch wolle sie keine Maßnahmen ergreifen, „die Bürger, die Autos in gutem Glauben gekauft haben, in irgendeiner Weise benachteiligen würden“. Auch werde den Autoherstellern kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand aufgebürdet werden.
Wissing hatte in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor der Stilllegung von Millionen von Dieselfahrzeugen gewarnt. Grund seiner Befürchtung ist offenbar eine Anhörung in einem laufenden Verfahren vor dem EuGH. Darin geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen die Schadstoffgrenzwerte für Dieselfahrzeuge gemessen werden. Die Grenzwerte müssen auf Basis des Testverfahrens „Neuer Europäischen Fahrzyklus (NEFZ)“ eingehalten werden, das einen typischen Fahrbetrieb abbildet. In Extremsituationen kann der Schadstoffausstoß deutlich höher sein als zugelassen. Auf dieser Basis wurden bisher die Typengenehmigungen erteilt.
Gelten Grenzwerte auch bei Volllast und Steigung?
Laut Wissing vertraten die Kommissionsvertreter in dem Verfahren nun jedoch die Auffassung, die Schadstoffgrenzwerte gälten für jede Fahrsituation. Sie wären damit etwa auch bei sogenannten Vollastfahrten mit Steigung einzuhalten, wenn also ein Auto vollgeladen bergauf fährt und dabei vergleichsweise mehr Schadstoffe ausstößt. Das sei technisch derzeit gar nicht realisierbar, kritisierte Wissing. Sämtliche Euro-5-Genehmigungen (für Zulassungen von 2011 bis 2014) würden infrage gestellt. Ausgeschlossen seien auch nicht Konsequenzen für Fahrzeuge nach der Abgasnorm Euro 6.
Die „Annahme“ des deutschen Ministers, die Kommission wolle die Grenzwerte nun in jeder Fahrsituation durchgesetzt sehen, sei „irreführend“, argumentiert Breton. Die Kommission habe lediglich festgestellt, „dass die Pkw-Emissionsgrenzwerte unter normalen Einsatzbedingungen eingehalten werden müssen“, ergänzte ein Sprecher. Damit sei nicht jede Fahrsituation gemeint. Auch habe die Behörde ihren Standpunkt in dieser Frage nie geändert. Worin die Irreführung genau besteht, ging aus dem Brief aber nicht hervor. Breton schrieb nur, unabhängig vom Ergebnis des laufenden Gerichtsverfahrens werde die Kommission „weiterhin Lösungen fördern, die saubere und gesunde Luft begünstigen und einen vorhersehbaren und umsetzbaren Rechtsrahmen fördern“.
Breton konnte Wissings Bedenken indes nicht ausräumen – im Gegenteil. Dessen Zusicherung, dass die Kommission keine rückwirkenden Maßnahmen plane, sei irrelevant, schließlich wäre es der EuGH und nicht die Kommission, die eine solch weitreichende Entscheidung träfe, betonte eine Ministeriumssprecherin. Der EuGH muss derzeit einen Fall beurteilen, den ihm das Landgericht Duisburg vorgelegt hat. Er betrifft den Stuttgarter Autokonzern Mercedes-Benz.
Wissings Furcht besteht offenbar darin, dass der EuGH der von ihm so wahrgenommenen Kommissionsdarstellung folgt. Entscheiden die Luxemburger Richter zulasten des Autobauers, müsste das Landgericht die Entscheidung im Einzelfall umsetzen, allerdings könnten dann auch die Typengenehmigungen für Euro-5- und Euro-6- Fahrzeuge betroffen sein.