Im Zentrum Kiews liegt der Sophienplatz direkt vor der gleichnamigen Kathedrale, deren Turmspitze hoch oben golden in der Herbstsonne leuchtet. Unten ist der Platz mit Porträts gefallener Soldaten übersät. Auf Tafeln vermerkt sind ihre Namen und Lebensdaten sowie je eine kleine Geschichte aus ihrem oft viel zu kurzen Dasein. Viele der Männer und Frauen sind nach der Jahrtausendwende geboren, in einer freien Ukraine, und sie haben ihr Leben gegeben, um ihr Land vor einer weiteren Fremdbestimmung zu bewahren. An fast allen Tafeln haben Menschen Blumen niedergelegt, viele blau-gelbe Sträuße sind zu sehen, die Nationalfarben des Landes.
Nur wenige Hundert Meter von diesem Platz entfernt sind im Konferenzsaal eines Hotels ebenfalls Porträts gefallener Ukrainer an die Wand projiziert. Sie zeigen meist lebensfrohe junge Menschen, die allesamt andere Pläne hatten, als in einen Krieg zu ziehen. Doch der Krieg ist in der Ukraine bittere Realität seit 2014 und völlig entfesselt seit 2022, als Russland das Land großflächig überfiel. Seitdem sterben täglich Menschen auf den Schlachtfeldern, vor allem im Südosten der Ukraine und in den von Russland bombardierten Städten. Zudem bedroht der Krieg auch ganz Europa, und er stellt die seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte Sicherheitsarchitektur in einem Großteil der Welt infrage.
Derart existenzielle Themen hatte Viktor Pintschuk nicht auf der Agenda, als er vor zwanzig Jahren eine Konferenz zur Entwicklung der Ukraine und ihre Annäherung an die Europäische Union ins Leben rief. Jahr für Jahr versammelte der ukrainische Milliardär ranghohe Politiker und Wirtschaftsführer vor allem aus der westlichen Welt. Zunächst fanden die Treffen in Jalta statt, woher die Konferenz ihren Namen hat (YES – Yalta European Strategy), seit der Annexion der Krim veranstaltet er sie in Kiew. Seit zwei Jahren liegt der Fokus des jährlichen Treffens zwangsläufig auf dem Krieg und der Frage, wie er beendet werden kann.
Munition wird mit eigenem Gehalt gekauft
Vom Sieg der Ukraine ist freilich nicht nur Pintschuk überzeugt, doch könnte, so macht er klar, dieser Sieg viel schneller erreicht werden, wenn denn die nötigen Ressourcen zur Verfügung stünden. Die Ressourcenfrage ist die entscheidende, sie durchzieht das gesamte Treffen. Die zahlreichen Soldaten, Männer und Frauen, die zum Teil direkt von der Front nach Kiew gekommen sind, berichten von ihrem aufopferungsvollen Kampf, den sie stets am Limit führten.
„Wir haben zu wenig Geld, zu wenig Material und zu wenig Munition“, sagt Kommandeur Robert Brovdi, der eine im Land berühmte Drohneneinheit führt. „Diesen Mangel bezahlen wir tagtäglich mit dem Leben unserer Leute.“ Seine Einheit gebe große Teile ihres Gehalts dafür aus, sich selbst mit Munition zu versorgen, sagt Serhii Varakin, der 2014 seine Firma verkaufte, um die Armee zu unterstützen. Er appelliert an die Verbündeten, nicht länger mit ihrer Unterstützung zu zögern. „Ich bin es so leid“, sagt der 44 Jahre alte Mann. „Russland hat mir jetzt zehn Jahre gestohlen. Ich will zurück in ein normales Leben!“
Konkrete Zahlen nennt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zur Eröffnung der Konferenz, bei der er auch über die ukrainische Offensive im westrussischen Kursk spricht. Es sei darum gegangen, einem russischen Angriff in dem Gebiet zuvorzukommen und zugleich das in einem Krieg wichtige Überraschungsmoment auf der eigenen Seite zu haben. Zugleich sei der Feind geschwächt worden: So habe das in Material und Menschen ausgedrückte Kräfteverhältnis zwischen der Ukraine und Russland in der umkämpften Gegend bei Pokrowsk im Gebiet Donezk vor der Offensive eins zu zwölf betragen, danach habe es sich auf 1:2,5 verringert. „Das können wir als einen Erfolg sehen“, sagt Selenskyj. „Aber wir haben täglich hohe Verluste, die wir ersetzen müssen, und dazu benötigten wir volle Unterstützung.“
Moralische Stützen im Ausland
Letzteres ist vor allem an Politiker und Entscheider Europas und der Vereinigten Staaten im Saal gerichtet. Unter ihnen sind der Präsident Estlands, die Außenminister Polens und Litauens, die Verteidigungsminister Dänemarks und der Niederlande sowie die einstigen Premierminister Finnlands, Frankreichs und Großbritanniens, Sanna Marin, Gabriel Attal und Boris Johnson. Außerdem sind die früheren amerikanischen Generäle David Petraeus und Wesley Clark und Donald Trumps einstiger Außenminister Mike Pompeo zugegen.
Sie alle müssen nicht mehr überzeugt werden, sondern werben in ihren Ländern seit Langem für mehr Unterstützung des überfallenen Landes – auch angesichts der Tatsache, dass Russland inzwischen jährlich 150 Milliarden Dollar für sein Militär ausgibt, während die Ukraine trotz einer Verzehnfachung in den vergangenen zwei Jahren nur auf gut 60 Milliarden Dollar kommt. Aber sie sind auch eine moralische Stütze für die ukrainische Regierung, deren Mitglieder sich an beiden Tagen vielen kritischen Fragen stellen müssen. Es geht um sinkendes Vertrauen der Bevölkerung, Energiesicherheit im nahen Winter und die nach wie vor im Land grassierende Korruption.
Energieminister Herman Haluschtschenko berichtet, dass Russland seit 2014 mehr als die Hälfte der ukrainischen Kraftwerke zerstört habe, man inzwischen aber eine vergleichsweise robuste dezentrale und sogar aus erneuerbaren Quellen bestehende Versorgung aufbaue. „Das geht jetzt schneller als geplant“. Kurzfristig sei sein Land durch mehr Stromimporte aus der EU auch kommenden Winter abgesichert. Anastasia Radina, Chefin der Antikorruptionsbehörde, berichtet von inzwischen fast 200 wegen Korruption verurteilten Amtsträgern sowie „Hunderten weiterer Verfahren“. Sie wisse, dass das längst nicht reiche, und sie appelliert in Anwesenheit mehrerer Minister vehement dafür, bei der Bekämpfung jetzt nicht nachzulassen oder diese gar auf „nach dem Sieg“ zu verschieben.
Kein Verlass auf einen Vertrag mit Russland
„Nach dem Sieg“ ist ein gängiger Satz in der Ukraine. Im Kiewer Zentrum werben Plakate, die Stadt „nach dem Sieg“ zu besuchen, und auch die Soldaten und Minister nutzen ihn. Eine Niederlage oder abermalige Unterwerfung unter Russland ist für die meisten Ukrainer nicht vorstellbar, auch wenn die Dauer des Krieges und zunehmende Verluste das Vertrauen der Einwohner haben sinken lassen. Die ukrainische Regierung sei seit 1945 die erste in Europa, die in einem Krieg agieren müsse, wirbt Premierminister Denys Schmyhal um Verständnis. „Wir arbeiten permanent im Krisenmodus, das zehrt bei uns allen an den Nerven.“ Und das sei im Übrigen auch der Grund für den jüngsten Kabinettsumbau.
Präsident Selenskyj hat versprochen, den Krieg zu einem „schnellen und gerechten Ende“ für sein Land zu führen. Als Voraussetzung dafür müsse die Ukraine jedoch so gestärkt werden, dass Russland an den Verhandlungstisch gezwungen werde, sagte er. Die Ukraine könne sich auf keinen weiteren Vertrag mit Russland einlassen, der wie das Budapester Memorandum – in dem die Ukraine 1994 ihre Atomwaffen gegen Sicherheitsgarantien an Russland abgab – das Papier nicht wert sei. Russland sei leider kein verlässlicher und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner.
Konkret richten sich seine Forderungen deshalb an die Verbündeten, mehr Waffen und mehr Munition zu liefern. Außerdem sollen sie sämtliche Restriktionen für deren Nutzung aufzuheben, um auch militärische Ziele im russischen Hinterland treffen zu können, von denen aus die russische Armee die Ukraine nahezu täglich angreift. „Russland muss diesen Krieg selbst fühlen, damit es versteht, dass er enden muss“, so Selenskyj.
Die Furcht vor einer Eskalation, die vor allem westeuropäische Länder zögern lässt, sowie Plädoyers für ein Einfrieren des Krieges teilen die Osteuropäer explizit nicht. „Der einzige Weg, diesen Krieg zu beenden, ist, Russland zu zwingen, ihn zu beenden“, sagte Estlands Präsident Alar Karis. Der Ukraine und Europa hälfen kein Kompromiss oder Waffenstillstand, sondern nur ein dauerhafter Frieden. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis ist überzeugt, dass dieser nur mit eigener (europäischer militärischer) Stärke zu erreichen ist. Polens Außenminister Radosław Sikorski fordert insbesondere von Deutschland und den Niederlanden, die in seinen Augen üppige Sozialhilfe für ukrainische Wehrpflichtige zu streichen. „In Polen haben wir das gemacht. Das entlastet unsere Budgets und hilft direkt der Ukraine.“
Putins atomare Drohungen seien unwahrscheinlich
Einen neuen Weg geht Dänemark, das seit dem Frühjahr die Waffen- und Munitionsproduktion direkt in der Ukraine mit bisher 400 Millionen Euro unterstützt. Die Produktionskapazität seines Landes betrage rund 20 Milliarden Dollar, sei aber nur zu einem Drittel ausgelastet, berichtet der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow. Der Grund sei fehlendes Geld. „Das sollten wir nutzen“, fordert sein dänischer Amtskollege Troels Lund Poulsen, der sich beeindruckt von der Produktion in der Ukraine zeigt. „Wir haben im Juli bestellt, und Mitte September wurde geliefert“, berichtet er und zählt weitere Vorteile auf: Die Herstellung geschehe viel schneller als in Westeuropa, Bürokratie und Kosten seien deutlich geringer, und die Ausrüstung könne gleich im Land gewartet werden.
Und was ist mit den von Putin immer mal wieder erklärten „roten Linien“, insbesondere mit Blick auf eine atomare Eskalation? „Das war anfangs in der Tat eine reale Bedrohung und ernst zu nehmende Sorge“, sagt Ex-General Petraeus. Inzwischen halte er sie jedoch für gebannt, weil die Präsidenten von China und Indien gegenüber Putin öffentlich klargemacht hätten, dass er das nukleare Säbelrasseln lassen soll. „Das war eine reale Warnung an ihn, die er verstanden hat, selbst den Einsatz taktischer Atomwaffen halte ich heute für weit weniger wahrscheinlich.“
Langfristig, da sind sich auf der Kiewer Konferenz so ziemlich alle einig, habe die Ukraine nur eine sichere Zukunft als Mitglied der NATO und der Europäischen Union. Inwieweit auch Selenskyjs Friedensplan diese Ziele beinhaltet, verriet der Präsident allerdings nicht. Er habe sein Wort gegeben, diesen Plan zunächst mit US-Präsident Joe Biden sowie im Anschluss mit den beiden Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris und Donald Trump zu besprechen. „Ich kann aber sagen, dass der Plan sehr ernst gemeint ist“, sagt Selenskyj. Er soll Bestandteil der noch vor Jahresende geplanten Friedenskonferenz sein, zu der die Ukraine auch Russland einladen will.
Bei der Erwähnung des Namens Trump freilich schlagen die meisten der einstigen oder – in der Regel per Video zugeschalteten – heutigen Amtsträger aus den USA die Hände über dem Kopf zusammen. „Donald Trump wäre das Worst-Case-Szenario“, sagt die einstige US-Außenministerin Condoleezza Rice. „Er bewundert ganz offensichtlich Putin und würde den Krieg zu dessen Bedingungen beenden.“ Anderer Auffassung ist Mike Pompeo, der Trump in Kiew einen „rationalen und pragmatischen Politiker“ nennt.
Am Ende ist es Boris Johnson, der in einer Guerillaaktion das Podium erklimmt und ein Video aus Trumps Flugzeug einspielen lässt. Mit ihm als Präsident, so tönt Trump von dort auf dem Weg zu seinem nächsten Wahlkampfauftritt, „wäre dieser Krieg niemals ausgebrochen“. Und als Präsident werde es eine seiner ersten Aufgaben sein, diesen Krieg zu beenden. Selenskyj ist da schon nicht mehr im Saal. Und das ukrainische Publikum guckt unsicher bis ungläubig.