Der herausragende Abfahrer im alpinen Ski-Weltcup heißt Bryce Bennett. Der Amerikaner ist mehr als zwei Meter groß und überragt seine Mitstreiter locker um fünfzehn, zwanzig Zentimeter. Kein Vorteil in einer Sportart, bei der eher kompakte Kraftpakete gefragt sind.
„Es ist hart“, sagt der schlanke Bennett selbst, der kaum hundert Kilo auf die Waage bringt, über seinen Längennachteil. „Auch das Equipment ist eher an Durchschnittstypen orientiert. Für mich ist alles nicht gewöhnlich.“ Wegen seiner langen Beine wirkt Bennetts Fahrstil immer etwas staksig, weshalb sich viele Weggefährten in früheren Jahren wunderten, dass er ausgerechnet Profiskifahrer werden wollte. Er wurde es dennoch.
Und Bryce Bennett hat sich durchgesetzt – wenn auch nach langen Lehrjahren. Vor dem Rennwochenende in Wengen liegt der 31-Jährige aktuell auf dem zweiten Platz der Abfahrtswertung des alpinen Ski-Weltcups. Den Saisonauftakt in Gröden gewann er mit Startnummer 34 – nachdem die vermeintlichen Siegerfotos mit den Stars Alexander Aamodt Kilde und Marco Odermatt schon geschossen waren. Zwei Tage später bestätigte er seinen Coup mit einem dritten Rang auf gleicher Piste. Und auch die Lauberhorn-Rennen geht er zuversichtlich an, schließlich raste er vor der Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau in den vergangenen Jahren dreimal unter die besten acht.
Svindal und Walchofer als Vorbilder
Bryce Bennett stammt aus Palisades Tahoe in Kalifornien, einem Wintersportgebiet im „Olympic Valley“ am malerischen Lake Tahoe. Er war von Kindesbeinen an begeisterter Skiläufer. „Skifahren ist nicht wirklich ein Teil der amerikanischen Sportkultur. Aber ich habe jede Woche Skirennen geguckt. Es war ein Traum für mich, einer von den Jungs zu sein.“
Seine Vorbilder waren große und groß gewachsene Abfahrer wie Aksel Lund Svindal und Michael Walchhofer. Und auch an seinen Landsleuten Bode Miller und Ted Ligety sowie Lindsey Vonn und Mikaela Shiffrin orientierte er sich – weil sie tough genug waren, ihren eigenen Stil zu entwickeln und damit Erfolg zu haben.
Der amerikanische Traum, es schaffen zu können, wenn du nur fest genug daran glaubst, bedeutet für alpine Skifahrer in den USA, es auch selbst entwickeln zu müssen. Es gibt keinen Masterplan wie in Österreich oder der Schweiz. „Die USA sind groß, und wir kommen aus vielen Gegenden des Landes. Die Technik ist individuell bei allen von uns. In den europäischen Ländern gibt es mehr Kontrolle über die Lerninhalte“, sagt Bennett. Für ihn war die Freiheit, seine eigene Skitechnik kreieren zu können, der zwangsläufige Weg: „Du lernst es beim Ausprobieren.“
Nach neun Jahren im Weltcup verfestigt sich sein Eindruck, wirklich dabei zu sein. „Es hat gedauert, daran zu glauben: Du bist einer dieser Jungs. Du kannst auf dem Podium stehen.“ Für Bennett hat sich sein persönlicher amerikanischer Traum erfüllt – auch wenn er zwischendurch zur Erkenntnis gelangte, sich die härteste Disziplin von allen ausgesucht zu haben.
„Bei anderen Sportarten startest du langsam ins Spiel“, lautet Bennetts Beobachtung: „Und du hast die Möglichkeit, dich heranzutasten. Beim Skiracing musst du sofort im Flow sein. Von dem Moment an, in dem du das Rennen beginnst. Das macht es so schwierig. Das ist die Challenge.“ Nicht immer gelingt es ihm, wie sein 48. Platz in Bormio zeigte.
Um die Herausforderung Ski-Weltcup zu meistern, nehmen die Amerikaner zudem eine lange Reise auf sich. „Wir sind 160 Tage im Jahr unterwegs – und da ist das Sommer-Trainingslager in Argentinien noch nicht eingerechnet.“ Auch Weihnachten und Silvester verbrachte er im Kreise des US-Skiteams. Sein privates Glück hat er dennoch gefunden – im Sommer 2022 heiratete Bennett seine langjährige Freundin Kelley Altick – zu Hause am Lake Tahoe: „Sie ist großartig – und sie wusste, auf welches Leben sie sich einlässt.“