Vielleicht hätte man von vornherein auf Konfuzius hören sollen, dann hätte man sich einen Teil der Irritation durch ChatGPT erspart. Gerade solche mit Verstand und Sprache verbundenen Fähigkeiten nämlich, die in der westlichen Tradition als Wesensmerkmale des Menschen gelten und deren Nachahmung durch die Künstliche Intelligenz so sehr verunsichert, hält der Meister gar nicht für „menschlich“. Gewandte Reden, so heißt es gleich zu Beginn der ihm zugeschriebenen „Gespräche“, seien „selten ein Zeichen für Menschlichkeit“.
Vielmehr zeichne den exemplarischen Menschen, wie er ihn unter dem Titel des „Edlen“ vorstellt, aus, dass er zu unterscheiden vermag, wozu er etwas zu sagen hat und wozu er besser schweigt. Konfuzius selbst sagte zum Beispiel ausdrücklich nichts über „Übernatürliches, Körperkraft, über Aufruhr und über Geister“. Der Edle lasse sich auch nicht, heißt es anderer Stelle, „wie ein Gefäß hinstellen“. Er ist also kein Werkzeug und lässt sich auch nicht als solches benutzen.
Wie diese verstreut wirkenden Sentenzen zusammenhängen, ist erst einmal nicht leicht zu fassen. Doch man ahnt, dass eine andere Art, über Menschliches zu reden, dahinter steht, als man es von den europäischen Versuchen her gewohnt ist, ein Wesen des Menschen zu definieren. Dann wäre diese historische Figur, die 479 vor Christus gestorben sein soll, nicht nur wegen ihres ungeheuren Einflusses auf die Geschichte Chinas interessant, nicht nur als Konfuzianismus also, der ein ganzes System bürokratischer Verwaltung und gesellschaftlicher Normierung hervorgebracht hat – sondern auch für das Verständnis der Gegenwart, als Beitrag zur Frage, was es zwischen Sprachmodellen und Identitätsdiskursen heißen könnte, ein „Mensch“ zu sein“. „Man empfindet es als ein modernes Buch“, hatte schon Elias Canetti über die „Gespräche“ gesagt. Zwei Neuerscheinungen, wie sie gegensätzlicher kaum sein können, geben jetzt Gelegenheit, das zu prüfen.
War er ein westlicher Philosoph?
Der Münchener Sinologe Hans van Ess legt im Beck-Verlag eine ausführlich kommentierte und prächtig aufgemachte Neuübersetzung der „Gespräche“ vor. Und der in Taipeh lehrende Philosoph Kai Marchal gibt bei Matthes & Seitz unter dem Titel „Menschsein lernen“ einen Vortrag von Tu Weiming heraus, einem der berühmtesten amerikanischen Konfuzius-Interpreten. Der 1940 im chinesischen Kunming geborene Philosoph, der in Taiwan aufgewachsen ist und Professor in Harvard, Princeton und Berkeley war, hat in zahlreichen Büchern den Konfuzianismus als einen anschlussfähigen „geistigen Humanismus“ vorgestellt. Das Problem ist nur, dass er aus Konfuzius dabei einen westlichen Philosophen macht, der allen Erwartungen an eine anständige westliche Philosophie oder im Zweifel auch Religion entspricht.
Für einige der konfuzianischen Motive findet er glückliche Formeln, etwa wenn er die sozialen und familiären Beziehungen, in denen ein Mensch steht, als „ermöglichende Einschränkungen“ bezeichnet. Doch an anderen Stellen benutzt er ohne weitere Erklärung voraussetzungsreiche Begriffe der europäischen Tradition, für die es bei Konfuzius gar keine Entsprechung gibt – etwa wenn er behauptet, einer der elementarsten „Grundsätze“ des Denkers sei, „Person“ werden zu lernen. „Würde, Unabhängigkeit und Autonomie des Selbst“ seien im Konfuzianismus hochgeschätzte Werte, und letztlich gehe es ihm um den „Sinn des Lebens“ – alles Wörter, die im Westen gleich Vertrauen erwecken, die aber mit den in den „Gesprächen“ entwickelten Kategorien nichts zu tun haben.
Tu Weimings Philosophie funktioniert wie ein Katalysator: Dem westlichen Denken werden da mit dessen eigenen Begriffen alte chinesische Motive wie Lernethos und kosmische Verbundenheit schmackhaft gemacht, und gleichzeitig wird die chinesische Gesellschaft mit Konfuzius geködert, um sie an Individualismus und Pluralismus heranzuführen – gewiss ein ehrenwertes Programm, bei dem aber das, was bei Konfuzius eigen ist, ganz unterzugehen droht.