Leipzig liegt am Meer. Zumindest knirschen unter meinen Sohlen Muscheln. Ich bin unterwegs auf meinem Lieblingsweg in der Stadt – ach, was sage ich: meinem liebsten Ort in ganz Leipzig. Er findet sich auf keiner Straßenkarte. Er ist ja auch nur dreißig Schritte lang, und benutzt wird er von wenigen. Von mir aber oft, denn er führt von der Karl-Tauchnitz-Straße zwischen Alt- und Neubau der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfzK) an einem ehemaligen Kutscherhaus vorbei zu einer Backstube, die witzigerweise beansprucht, Bäckerei für zeitgenössisches Brot zu sein, und die besten Croissants produziert, die ich diesseits des Rheins bisher gefunden habe. Und das in Fußentfernung von meiner Wohnung.
Knirschende Muscheln unter den Sohlen
Angesiedelt ist die Backstube auf der abgewandten Seite des Kutscherhauses, das zu jener Villa gehört, die 1993 Gründungsgebäude der GfzK wurde, und der Garten ringsum ist seitdem Teil der Ausstellungsflächen. Deshalb wird das Grün hier liebevoll gepflegt – mit jenem großen Gartenkunstverständnis, das Vegetation wie natürlich gewachsen zu inszenieren versteht. Und so führen die dreißig Schritte meines Lieblingswegs durch ein scheinbar wildes Dickicht aus Holunder, Hasel, Jungfern- und Waldrebe, Efeu, Brennnessel, Bergahorn und Klette. Als ich ihn nach dem letzten Winter zum ersten Mal wieder beschritt, kam ich kaum mehr durch, so sehr hatten die Pflanzen seinen halben Meter Breite überwuchert, aber schon am Folgetag war alles wieder freigeschnitten, ohne dass der Eindruck verloren gegangen wäre, hier mitten in der Zivilisation für dreißig Schritte in einen Dschungelpfad zu treten. Oder eben ans Meer – wenn man die Augen schlösse und nur auf das Geräusch der beim Gehen knirschenden Muscheln lauschte.
Der Weg trägt einen Namen: Frysk Skelpepaad. Das klingt nicht sächsisch, und in der Tat: Es ist friesisch. Was macht ein Name, der aus den Küstengebieten der Nordsee stammt, in einer Stadt, deren Bewohner es traditionell eher an die Ostsee zieht? Ein kleines am Kutscherhaus angebrachtes Messingschild am Einstieg zum Weg, selbst größtenteils von Ranken überwuchert, erzählt die Geschichte: „Friesische Jungbauern und Jungbäuerinnen haben im Rahmen der International Village Show mit Muscheln aus dem Wattenmeer einen Gehweg angelegt.“ So ist das Meeresgefühl unter den Füßen nach Leipzig gelangt.
Das Jauchzen herumtollender Kinder
Diese International Village Show war ein Ausstellungsprojekt der GfzK, in dessen Rahmen die internationale Künstlergruppe Myvillages von Februar 2015 an für ein Jahr im eigens dafür umgebauten Kutscherhaus kulturelle Lebenswelten aus sechzehn über den ganzen Globus verstreuten Dörfern nach Leipzig gebracht hatte, darunter auch Muscheln vom Strand in Beetsterzwaag, gelegen im niederländischen Friesland. In den acht Jahren seither, so sollte man denken, müssten sie von Wind, Wetter und Schuhen zerrieben und über die ganze Stadt verteilt sein, doch wie der Weg behutsam vom Wildwuchs frei gehalten wird, so ist auch sein Muschelbelag immer wieder aufgefrischt worden – mittlerweile allerdings nicht mehr von den arbeitsamen Händen friesischer Jungbauern und Jungbäuerinnen, sondern durch sächsische Einheimische, und ob die Muscheln dafür noch aus Beetsterzwaag stammen, das weiß niemand zu sagen. Friesland ist groß; auch Deutschland hat ja ein ordentliches Stück davon.