Ob sie eigentlich böse sei, fragt der angehende Schriftsteller Arnold die Studentin Muna, was nun genau böse an ihr sei, und schließlich: „Wem willst du Böses?“ Muna geht im Geist die Menschen durch, die sie verletzt haben – ihre alkoholkranke Mutter, die kaltherzige Tante, der übergriffige schottische Gastdozent –, und antwortet, ihr fielen durchaus Menschen ein, denen sie eine „ordentliche Abreibung“ wünsche oder sogar den Tod. Dabei ließe sich der Konflikt mit ihnen doch ganz einfach lösen: „Wenn sie mir sagen würden, sie lieben mich, wäre ihnen nicht nur alles verziehen, ich würde sogar mit all meinen Kräften daran arbeiten, ihnen ihr Leben so gut wie möglich zu machen.“
Bei ihm sei das anders, sagt Arnold. Dann fällt er über sie her, begrapscht sie und lässt sich nur knapp durch massive Gegenwehr aufhalten.
Arnolds Opfer ist die Erzählerin in Terézia Moras neuem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, der Anfang September erschienen ist und zurecht auf den Shortlists gleich zweier renommierter Literaturauszeichnungen steht – er ist für den Raabepreis ebenso nominiert wie für den Deutschen Buchpreis. Die wie die Autorin 1971 geborene Muna schildert darin, so scheint es, weitgehend chronologisch, was ihr zwischen 1989 und etwa 2010 widerfährt, zwischen dem Mauerfall, den sie in Ostdeutschland erlebt, und dem späten Beginn ihrer Laufbahn als Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin, London, Wien, wieder Berlin, Saint-Nazaire an der französischen Atlantikküste, Basel und ein weiteres Mal in der deutschen Hauptstadt. Sie ist Studentin, Kindermädchen, Kellnerin, Doktorandin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an Forschungsprojekten, vertritt die schwangere Pressefrau eines Verlags, verkauft in einem Modeladen, wird Buchhändlerin und schließlich Autorin.
Ihre Biographie gleicht also der vieler anderer, die in den Jahren seit der Wiedervereinigung auf den Arbeitsmarkt drängten, sie ist geprägt von jähen Orts- und Stellenwechseln, von materieller Unsicherheit und von der Notwendigkeit, sich ständig auf neue Kollegen und Freunde einzustellen und die alten aus den Augen zu verlieren. Allerdings besitzt Munas Erzählung in ihrer jahrzehntelangen Obsession für den Lehrer und Amateurfotografen Magnus einen bemerkenswert konstanten roten Faden. Was sie berichtet, beginnt und endet mehr oder weniger mit ihm, und was ihr mit und durch Magnus widerfährt, ist das wesentliche Thema des Romans.
Sie liebt ihn, er hält sie auf Abstand
Muna lernt ihn noch vor dem Abitur in ihrer ostdeutschen Heimatstadt kennen, nachdem sie einen Schreibwettbewerb mit einem Gedicht gewonnen hat, in der örtlichen Zeitung hospitiert und nun in der Redaktion eines Kulturmagazins aushilft, das Magnus’ Fotos publiziert. Muna verliebt sich in den, wie sie schreibt, ausgesprochen schönen Mann, der sie offensichtlich kaum bemerken will, folgt ihm heimlich durch die Stadt, schläft mit ihm und verliert ihn schließlich, als er im Sommer 1989 von einer Reise nicht mehr zurückkehrt wie so viele andere auch. Ihre Briefe bleiben unbeantwortet. Erst Jahre später sehen sie sich zufällig wieder. Sie beginnen eine Beziehung, die sie wesentlich ernster nimmt als er, behalten je eigene Wohnungen, unternehmen Reisen und sind nicht nur in der Familienplanung unterschiedlicher Auffassung über den richtigen Grad an Intensität in dieser Gemeinsamkeit.