Es dauert keine zehn Minuten, da platzt dem Mann in der fünften Reihe der Kragen. Er kippelt auf seinem Stuhl, stöhnt, schüttelt den Kopf. Vorn steht Carsten Schneider, der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, und nennt Jena „eine Perle“. Er spricht vom „Magneten“ Zeiss, von den Leuchtturm-Instituten Max Planck, Helmholtz, Fraunhofer. Doch der Mann im gelben Pulli will nicht hören, was alles gut läuft in Jena und im Osten. Es reißt ihn vom Stuhl in die Höhe: „Eine Perle reicht nicht!“, ruft er bebend.
Schneider lächelt. Auf die anderen Perlen werde er noch zu sprechen kommen. Doch der Mann will lieber selbst reden. „Wir älteren Ossis“, fängt er an, und eine Frau mit Mikro eilt herbei. Schneider war zwar noch nicht fertig, aber was soll’s. Ist ja ein Bürgerdialog. Und dazu gehört auch immer das Tauziehen ums Mikrofon. Seine Mitarbeiterin weiß: Nie aus der Hand geben, sonst endet alles im Chaos.
Also hält sie das Mikrofon mit aller Kraft fest, das der Redner ihr gerade entreißen will. Er zerrt und spricht von Zeiss, wo er auch mal gearbeitet habe. Von der Wende, seiner Entlassung, der mickrigen Rente. Pause. „Wem gehört denn der Osten?“, fragt er und wartet nicht lang auf seine eigene Antwort: „Dem Westen!“ So habe er es bei Dirk Oschmann gelesen. Im Westen häufe sich das Vermögen, dort würden die Steuern eingestrichen. „Ein Skandal!“, ruft er bitter, „eine Sauerei!“
Das ist der Frust, dem Schneider täglich begegnet: seit 34 Jahren gewachsen, seit 34 Jahren von gegenseitigen Missverständnissen genährt. Je besser es im Osten wurde, desto schmerzhafter wurden die Erinnerungen an die Neunzigerjahre, die Demütigungen, die Ungerechtigkeiten. Als habe man vor lauter Strampeln im real existierenden Kapitalismus keine Zeit gehabt, wütend zu werden. Als habe es dafür erst einen Dirk Oschmann gebraucht. Oder AfD-Umfragewerte von mehr als 30 Prozent. Nun droht sich der Frust bei den Landtagswahlen zu entladen. Und plötzlich schauen alle wieder hin. Gibt es da nicht jemanden in der Regierung, der für diesen Frust zuständig ist? Ach ja, der Frust-Beauftragte: Carsten Schneider.
„Sie haben es doch selbst in der Hand!“
Der steht vorn und schaut den Mann im gelben Pulli an, ernst und sachlich. Dann sagt er auf diese ernste, sachliche Art: „Also, diesen Opfermythos teile ich überhaupt nicht.“ Er kommt näher, bis kurz vor die erste Reihe. „Für Sie hat sich nach der Wende alles geändert“, sagt er dann, plötzlich weicher. Wie für seine Eltern und wie für so viele in dieser Generation. Und genau dieser Generation sei es zu verdanken, dass Thüringen heute so gut dastehe. „Das ist Ihre Leistung!“ Weil sie, die älteren Ossis, auf die Füße gefallen seien. Darauf könnten sie doch „stolz“ sein. Nicht pathetisch sagt er das, sondern leise und thüringisch, aber bestimmt.
Es ist Schneiders Interpretation des Ost-Beauftragten. Eine Mischung aus Verständnis und Unverständnis. Ein Tauziehen, wie vorhin ums Mikro: Der Mann darf reden, und Schneider hört zu. Aber nicht endlos. Der Mann darf schimpfen, und Schneider nickt verständnisvoll. Aber nicht zu allem. Und manchmal sagt Schneider auch: „Nö“. Oder: „Das sehe ich ganz anders.“ Oder: „Sie haben es doch selbst in der Hand!“