Juristen lieben formale Stabilität. Das Bundesverfassungsgericht schreibt seine Entscheidungen deshalb in aller Regel so, dass sie sich als Fortsetzung bisheriger Urteile lesen – selbst dann, wenn sich inhaltliche Schwerpunkte verschieben. Schreiben die Richter explizit, ihr Urteil stehe in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung, ist das ein Zeichen für eine 180-Grad-Wende.
Am Dienstag war genau das der Fall: Der Erste Senat gab der Verfassungsbeschwerde eines leiblichen Vaters statt, der aufgrund der bisherigen Regeln im Bürgerlichen Gesetzbuch mit der Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft eines anderen Mannes erfolglos war. Der neue Partner der Mutter hatte die Vaterschaft anerkannt und zu deren Kind eine sozial-familiäre Beziehung aufgebaut. In dieser Konstellation verbietet das Gesetz bisher ausnahmslos die Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater.
Bisherige Rechtsprechung: Anfechtung in vielen Fällen unmöglich
Karlsruhe hatte diese Regelung bisher gebilligt. In einem Grundsatzbeschluss aus dem Jahr 2003 entschieden die Richter, sie sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber müsse dem leiblichen Vater zwar grundsätzlich einen „verfahrensrechtlichen Zugang“ zum Elternrecht ermöglichen.
Bestehe zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind aber eine sozial-familiäre Bindung, sei es mit der Verfassung vereinbar, dem leiblichen Vater die Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft zu verwehren. Der Gesetzgeber dürfe diese Priorisierung ausnahmslos treffen, um den „Erhalt eines bestehenden sozialen Familienverbandes“ zu gewährleisten.
Von dieser Haltung rückt das Bundesverfassungsgericht nun ab. Es schreibt, „anders als in der bisherigen Rechtsprechung angenommen“ seien leibliche Väter „im Ausgangspunkt Träger des Elterngrundrechts“. Dieses sei so angelegt, dass es „mit dem Innehaben von Elternverantwortung“ verbunden sei. Es müsse für leibliche Väter daher grundsätzlich möglich sein, diese „Verantwortung auch erhalten und ausüben zu können“.
Bundestag muss Gesetz bis Juni 2025 neu ausgestalten
Das bedeutet nicht, dass leibliche Väter in Patchworkkonstellationen künftig stets ihre Interessen durchsetzen können. Der Gesetzgeber muss den Familiengerichten aber ermöglichen, den Einzelfall zu betrachten: So hatte der in Karlsruhe erfolgreiche Beschwerdeführer aus Sachsen-Anhalt auch nach der Trennung von der Mutter Umgang mit seinem Kind. Die Gerichte konnten das jedoch aufgrund der strikten Normen im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht berücksichtigen.
Karlsruhe verlangt, dass der Gesetzgeber bis spätestens zum 30. Juni 2025 einen „angemessenen Ausgleich“ zwischen den Rechten des leiblichen Vaters, der rechtlichen Eltern und des Kindes finden muss. Bis dahin bleiben die bisherigen Regeln in Kraft, auch der Beschwerdeführer muss sich zunächst gedulden. Für die Neuregelung hat der Bundestag mehrere Möglichkeiten: Er muss die Anfechtungsregeln mindestens so verändern, dass gegenwärtige oder frühere sozial-familiäre Beziehungen des leiblichen Vaters zum Kind berücksichtigt werden können.
Urteil kommt Bundesjustizminister Buschmann gelegen
Gleiches gilt für dessen „frühzeitiges sowie konstantes Bemühen um die rechtliche Vaterschaft“. Die Richter halten die Anpassung auch deshalb für notwendig, weil der Erfolg einer Vaterschaftsanfechtung derzeit zu sehr von zeitlichen Zufällen, der Einwirkung von Mutter und Jugendamt und der Auslastung der Familiengerichte abhänge. Ein solcher „Wettlauf“ um die rechtliche Vaterschaft sei zu vermeiden.
Verfassungsrechtlich möglich wäre auch eine weitgehendere Reform des Familienrechts. Das Verfassungsgericht schreibt, der Gesetzgeber dürfe die rechtliche Elternschaft auf mehr als zwei Personen ausdehnen. Dass der Gesetzgeber so weit geht, gilt jedoch als ausgeschlossen: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, dass die Bundesregierung bei dem Prinzip der Elternschaft von zwei Personen bleiben wolle.
Diese Aussage entspricht einem Eckpunktepapier der Ampelkoalition zum Abstammungsrecht aus dem Januar. Buschmann sieht durch das Urteil „Rückenwind“ für seine Pläne zur Stärkung der Rechte leiblicher Väter. „Wir wollen eine ehrgeizige Reform des Abstammungsrechts durchführen, wir wollen aber keine Revolution“, sagte Buschmann.