Die kontroverse Aufarbeitung des Hanauer Attentats vom 19. Februar 2020 hat zu einigen grundlegenden Einschätzungen geführt, denen die Landtagsfraktionen von CDU, SPD, Grünen und FDP gemeinsam zustimmen. „An einigen Stellen besteht Grund zu der Annahme, dass ein anderes Handeln der zuständigen Behörden das Durchführen der Tat erschwert oder den Ablauf der Tat beziehungsweise die Ereignisse in der Tatnacht und danach verändert hätte“, heißt es in dem Vorwort zu dem 642 Seiten zählenden Abschlussbericht, über den der Landtag am Dienstag debattierte.
Allerdings verfassten alle vier Fraktionen der Opposition Sondervoten. Sie weichen in unterschiedlichen Punkten von dem Abschlussbericht ab, den CDU und Grüne mit ihrer Mehrheit beschlossen. Strittig ist beispielsweise die Bewertung der Tatsache, dass der Notruf der Polizeistation Hanau nicht dem üblichen Standard entsprach. Es sei „möglich“, dass Notrufe des bei der Verfolgung des Attentäters getöteten Vili-Viorel Păun „nicht entgegengenommen werden konnten“, so der Abschlussbericht.
Hätte Păun einen Polizisten erreicht, hätte der ihm von der weiteren Verfolgung abgeraten. Ob die Dauer des Telefonats aber ausgereicht hätte, den Geschehensablauf zu beeinflussen, lasse sich nicht feststellen. Denn zwischen dem ersten Anrufversuch und den tödlichen Schüssen hätten maximal zwei bis drei Minuten gelegen. Păuns Vater und die Linksfraktion vertreten die Auffassung, dass sein Sohn noch leben würde, wenn der Notruf funktioniert hätte. Die schwarz-grüne Mehrheit im Ausschuss sieht das ganz anders, auch wenn die Formulierung im Abschlussbericht diplomatisch klingt: „Bei einem optimalen Gesprächsverlauf hätte Vili-Viorel Păun von der weiteren Verfolgung abgesehen und vermutlich überlebt.“
Verantwortliche stehen in der Kritik
Die FDP-Fraktion, die dem Abschlussbericht überwiegend zustimmt, verwies darauf, dass ein Notruf immer funktionieren müsse. „Dass Verantwortliche, vor allem die Leitung des Polizeipräsidiums Südosthessen sowie des Landespolizeipräsidiums ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind, ist inakzeptabel“, sagte der Abgeordnete Jörg-Uwe Hahn, der am Dienstag in der Debatte des Landtags nach 37 Jahren als Parlamentarier seine letzte Rede hielt. Er verteidigte die Einsatzkräfte. Am selben Abend habe eine Bombenentschärfung angestanden. Trotz dieser personellen Herausforderung hätten die Polizisten „eine gute Arbeit geleistet“, so Hahn.
Kritik an der Polizei meint im Landtag stets auch den für die Beamten verantwortlichen Innenminister Peter Beuth (CDU). Aber im Untersuchungsausschuss geriet jedenfalls indirekt auch die SPD in die Defensive. Denn sie stellt den Landrat im Main-Kinzig-Kreis, und dessen Behörden waren für die Waffenbesitzkarte des Attentäters verantwortlich.
Sie seien der Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen „nicht vollumfänglich nachgekommen“, heißt es in dem schwarz-grünen Abschlussbericht. Die Akte und die Kenntnisse der befragten Mitarbeiter hätten deutliche Lücken aufgewiesen. Die Behörden hätten grundsätzlich die Möglichkeit gehabt, den Widerruf der Waffenbesitzkarte zu prüfen. Dem widerspricht die SPD: Die Sachbearbeitung sei zwar unzureichend gewesen. „Damit war jedoch nicht die rechtliche Möglichkeit verbunden, die Erteilung der waffenrechtlichen Erlaubnisse zu versagen oder sie im Nachgang zu widerrufen.“
Sehr ausführlich hatte der Untersuchungsausschuss im Laufe seiner insgesamt 42 Sitzungen die Frage nach dem Notausgang der „Arena Bar“ erörtert. Denn er erschien jedenfalls theoretisch als denkbarer Ausweg aus der tödlichen Falle, in der sich die Opfer am 19. Februar befanden. In den abschließenden Bewertungen spielt der Punkt jedoch keine große Rolle mehr.
Abgeordnete bitte Angehörige um Entschuldigung
In weitgehender Übereinstimmung wird festgestellt, „dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war und die anwesenden Gäste auch aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Vergangenheit davon ausgingen“. Er sei keine Fluchtoption gewesen. Um die Tatsache als solche hätten auch die Behörden der Stadt Hanau gewusst, „ohne dass die zwingend notwendigen ordnungsrechtlichen Maßnahmen eingeleitet oder weitere strengere Prüfungen durchgeführt wurden“, heißt es in dem Abschlussbericht von CDU und Grünen, dem auch die SPD, die den Hanauer Oberbürgermeister stellt, nicht widerspricht.
Die Linksfraktion beklagt, dass der Abschlussbericht der Polizei in vielen Punkten einen Persilschein ausstelle, „anstatt die Abgründe der schwarz-grünen Innenpolitik zu benennen, in die wir im Zuge der Ausschussarbeit blicken mussten“. Die AfD stimmt dem Abschlussbericht in der Sache zu, aber nicht dem Vorwort. Denn darin werde der AfD indirekt das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgesprochen.
„Allen im Ausschuss tätigen Abgeordneten ist es wichtig, auch ihr tiefes Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen“, heißt es in dem Vorwort des Abschlussberichts, in dem die Namen der neun Todesopfer an zwei Stellen genannt werden. „Wir bedauern, dass das Vorgehen im Umgang mit den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer nach der unfassbaren Tat dazu geführt hat, dass sie sich in diesem Moment alleine gelassen und unverstanden gefühlt haben und dadurch Vertrauen in unser Land verloren gegangen ist.“
Die Abgeordneten bitten die Überlebenden um Entschuldigung, weil es den staatlichen und kommunalen Behörden nicht gelungen ist, ihre Angehörigen davor zu schützen, Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden.