Seit 36 Jahren hatte kein deutscher Mann als erster Schwimmer angeschlagen am Ende eines olympischen Beckenrennens. Als Lukas Märtens am Samstagabend in Nanterre das tat, machte er nicht den Eindruck, dass sich an dieser langen sieglosen Statistik etwas geändert hatte. Offenkundig fassungslos blickte Märtens nach oben, bevor er die Hände vor das Gesicht schlug.
„Die ganzen Eindrücke haben mich überrannt. Ich habe angeschlagen, auf die Anzeigetafel geschaut und gedacht: Das kann nicht sein.“ Aber es stand ja da oben, unter dem Dach dieses Rugbystadions, das in einen Pool verwandelt wurde: 3:41,78 Minuten. Erster. Olympiasieger über 400 Meter Freistil: Lukas Märtens, 22 Jahre alt, aus Magdeburg an der Elbe. Und damit der Sieger des ersten Rennens unter den Schwimmern, die sich an die Seine aufgemacht haben. Der erste deutsche Olympiasieger des Jahrgangs 2024.
Als sich um 21.08 Uhr das Deutschlandlied ankündigte, Märtens auf dem erstaunlich flachen Podium ganz oben stand, musste Märtens sich sammeln, noch bevor Haydns erster Ton angespielt wurde. Die Brust hob sich, der Mund formte ein O. Ausatmen. Dann: Hand aufs Herz.
„Ich bin mein Ding geschwommen“
Märtens war dieses Szenario ja durchgegangen. Mehr als einmal. Hatte sich über Wochen vorbereitet darauf, als Favorit herauszutreten um zwanzig vor neun am Abend aus dem kleinen Tunnel an den Pool in der La Defense Arena, empfangen vom Lärm von fast 17.000 Zuschauern.
„Ich stelle mir das vom Callroom über den Startblock vor und dann das Rennen. Bis zum Anschlag. Ich stelle mir das Finish vor, die beiden Australier Elijah Winnington und Samuel Short schwimmen neben mir und ich in der Mitte, die Wand kommt näher, ich schlage an und dann leuchtet da die Eins auf.“ So hatte er es der F.A.Z. erzählt, als er sich Ende Juni in der Sierra Nevada auf Olympia vorbereitete.
Es waren nicht die beiden Australier Sam Short und Elijah Winnington, die neben ihm schwammen und versuchten Anschluss zu halten an ihn, der seine Rennen schnell angeht. Von vorne. Als Nummer eins auf Bahn vier. Der Mann mit der schnellsten Vorlaufzeit. Neben ihm, auf Bahn drei, schwamm der Chinese Fei Liwei, auf Bahn fünf Guilherme Costa aus Brasilien. Doch beide konnten Märtens kaum folgen. Der Magdeburger schlug ein immenses Tempo an. 2,41 Sekunden unter dem Weltrekord von Paul Biedermann aus dem Jahr 2009, der kurzen Blütezeit der „Wunderanzüge“. 2,62 Sekunden schneller als Biedermann damals war Märtens fünfzehn Jahre später. Und doch, auf Bahn acht, war der Südkoreaner Kim Woo-min unterwegs – und zwar schnell. Auf jeder ungeraden Bahn hatte Märtens, der nach jedem zweiten Armzug nach rechts atmete, keinen Blick für den Koreaner ganz außen. Auf dem Rückweg sah das anders aus. Und es wirkte, als könne Märtens sehr gut kontrollieren, wer dieses Rennen bestimmt. Er.
„Ich bin mein Ding geschwommen. Ich habe gedacht, ich schwimme gegen meine Magdeburger Trainingskollegen. Man muss sich einen Plan zurechtlegen. Man darf nicht denken: Ich muss, ich muss, ich muss. Ich muss gar nichts. So bin ich da rangegangen.“
„Noch die ein oder andere Chance auf Edelmetall“
Noch nach 300 Metern lag er auf Weltrekordkurs, nach der siebten von acht Bahnen dann nicht mehr. Siebenundsiebzig Hundertstelsekunden drüber. Egal, auch wenn ihn Biedermanns Rekord natürlich beschäftigt, im Hinterkopf.
„Beim Olympia-Rennen geht es nur um die Medaille. Mein Ziel ist eine Medaille, das wäre der Hammer, und vielleicht geht noch ein bisschen mehr. Wenn ich mit einer 3:43 eine Medaille gewinne, jubele ich und heule ich. In dem Moment ist es zweitrangig, dass ich schon mal zweieinhalb, drei Sekunden schneller war dieses Jahr“, hatte er im Juni gesagt. Vier Wochen später reichten 3:41,73 für Gold. Vor Winnington, der Kim noch abfing und ihn zum Bronzemedaillengewinner machte. Oliver Klemet, der Trainingskollege von Märtens, wurde Siebter.
Aber Märtens war so fassungslos, dass er erstmal gar nicht heulen konnte. Gleichzeitig zeigt die Prognose aus dem Juni, wie präzise Leistungssportler voraussehen können, was sich wohl abspielen wird. Denn bei den Deutschen Meisterschaften im April in Berlin war Märtens ja tatsächlich noch deutlich schneller gewesen, nach 3:40,33 Minuten im Ziel.
„Es war ein kontrolliertes Rennen“, sagte Märtens nun. „Die letzten Meter taten ein bisschen weh. Können sie auch. Die Zeit, mit der kann man gewinnen. Damit muss ich mich nicht verstecken. Viele haben erwartet, dass der Rekord fällt. Das ist mir scheißegal, ob der fällt oder nicht jetzt. Ich bin da ganz oben.“
Und es geht ja gleich weiter, am Sonntagmorgen schon: Vorlauf über 200 Meter Freistil. „Ich muss jede Sekunde, jede Minute zur Regeneration nutzen. Ich glaube, ich habe noch die ein oder andere Chance auf Edelmetall.“ Lukas Märtens wird nach einer kurzen Nacht wieder in das Rugbystadion von Nanterre treten, das in diesen Tagen zu einem Schwimmstadion geworden ist. Und er wird es als erster deutscher Mann betreten, der in einem Schwimmbecken Olympiasieger wurde seit Michael Groß im Jahr 1988.
Two German records are not enough for the podium
Schwimmerin Isabel Gose hat ihren ersten Wettkampf bei den Olympischen Spielen in Paris ohne Medaille abgeschlossen. Die Europameisterin von 2022 belegte im Finale über 400 Meter Freistil in deutscher Rekordzeit von 4:02,14 Minuten den fünften Platz. Es siegte die australische Weltrekordlerin Ariarne Titmus. Sie verwies die Kanadierin Summer McIntosh und US-Schwimmstar Katie Ledecky auf die Plätze zwei und drei. Die Magdeburgerin Gose hat im Einzel-Wettbewerb in Paris noch zwei Medaillenchancen. Die 22-Jährige tritt in der La Défense Arena noch über 1500 Meter und auf ihrer Paradestrecke 800 Meter Freistil an, auf der sie bei der WM in Doha Silber gewann.
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Auch die deutsche Staffel über 4×100 Meter schwamm deutschen Rekord, blieb aber wie Gose ohne Medaille. Das Quartett mit Josha Salchow, Rafael Miroslaw, Luca Nik Armbruster und Schlussschwimmer Peter Varjasi schlug in 3:12,29 Minuten an und erreichte damit Platz sieben im Finale. Schon im Vorlauf am Vormittag hatte die Staffel eine nationale Bestmarke aufgestellt. Gold ging im Finale an die USA um Superstar Caeleb Dressel, der damit seine insgesamt achte olympische Goldmedaille gewann. Silber holte Australien vor Italien auf Rang drei.
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Weltmeisterin Angelina Köhler hat dagegen am Samstag ihre Medaillenambitionen bei den Olympischen Spielen in Paris unterstrichen. Die 23-Jährige zog im Halbfinale über 100 Meter Schmetterling mit einer Zeit von 56,55 Sekunden als Vierte ins Finale am Sonntag (um 20.40 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zu Olympia, im ZDF und bei Eurosport) ein. Die Berlinerin Köhler hatte bei der WM in Doha im vergangenen Februar ihren großen Durchbruch gefeiert, als sie als erste deutsche Beckenschwimmerin seit Britta Steffen 2009 einen WM-Titel gewann.