Die Wahrheit, die der Leser in Frances Haugens Buch über Facebook erfährt, ist auf den ersten Blick nichts Neues: Der Tech-Konzern, der sich inzwischen Meta nennt, ließ in seinen sozialen Netzwerken Hetze und Fehlinformationen zu, duldete auf seinen Plattformen Menschenhandel und tat nichts gegen die fatale Wirkung seiner Dienste auf die psychische Gesundheit junger Menschen, insbesondere von Mädchen. All das weiß die Öffentlichkeit, seit sich Haugen im Jahr 2021 entschloss, über 20.000 firmeninterne Dokumente an Journalisten und Aufsichtsbehörden weiterzugeben.
Vor allem zur ersten Hälfte des Buches passt da der englische Originaltitel schon eher: „The Power of One“, die Macht des Einzelnen. Denn in diesen mitunter etwas zähen Kapiteln geht es vor allem um Haugens Biographie: Als Kind eines Arztes und einer College-Professorin war ihr ein akademischer Weg vorgezeichnet. Dass sie aber gewisse „soziale Defizite“ hatte, bemerkte sie früh: Den Humor ihrer Mitmenschen schien sie nie zu verstehen. Nach dem Highschool-Abschluss entfloh sie dem biederen Iowa und studierte Informatik und Elektrotechnik am Olin College in Massachusetts, heute eine der angesehensten Universitäten des Landes, damals gewissermaßen ein Start-up. Dann ging es, unterbrochen von einem Masterstudium an der Harvard Business School, ins Silicon Valley: erst Google, dann Yelp, Pinterest und schließlich Facebook.
Ein Kampf gegen Windmühlen
Dabei stellt Haugen immer wieder Bezüge zu ihren späteren Enthüllungen her: Hätte sie die stundenlangen Anhörungen im amerikanischen Senat überstanden, wenn der Tod einer engen Freundin sie in der Highschool nicht in die erste Reihe des schuleigenen Debattierteams versetzt hätte? Hätte sie Facebooks Algorithmen überhaupt hinterfragt, wenn am unkonventionellen Olin College nicht auch Ethikkurse zum Pflichtprogramm zählten? Es geht immer wieder um kleine und große Entscheidungen, um Zufälle, deren Wirkungen sich kumulieren bis hin zu jenem Moment, in dem Haugen eine Entscheidung traf, die ihr Leben für immer veränderte.
Nachdem ihre Karriere wegen gesundheitlicher Probleme ins Stocken gekommen war, heuert Haugen 2019 bei Facebook an – ein Arbeitgeber, der schon damals keineswegs allen als Auszeichnung im Lebenslauf gilt. Aus Überzeugung, etwas Positives bewirken zu können, tritt sie in die Abteilung ein, die Falschinformation auf der Plattform bekämpfen soll. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, wie sich bald herausstellt. Ihr Team ist chronisch unterbesetzt und hat im Unternehmen kaum Stellenwert. Als es nach mehreren Wochen akribischer Arbeit die Regeln aufstellt, nach denen Facebook fortan Falschinformationen und Brandreden von einflussreichen Politikern behandeln soll, kassiert Mark Zuckerberg das Dokument prompt ein. Der Firmenchef höchstselbst kündigt an, sich des Problems übers Wochenende anzunehmen. Seine simple Lösung: Facebook macht gar nichts.
Als ihr Teamleiter merkt, dass die Moral der Truppe ob der eigenen Ohnmacht zusehends schwindet, setzt er zur Motivationsrede an: Er zeigt ein Röntgenbild seines Rückens, der nach zwei Jahren voll 70-Stunden-Wochen vom vielen Sitzen so krumm ist, dass er bereits zwei Bandscheibenvorfälle hatte. Alles, weil er weiß, dass er für „etwas Gutes“ kämpft.
Haugen ist ein auf bemerkenswerte Weise lösungsorientierter Mensch. Und als sie merkt, dass sich die Probleme bei Facebook nicht intern lösen lassen, entscheidet sie sich, mit dem Journalisten Jeff Horwitz zusammenzuarbeiten. Einen erheblichen Teil ihrer Enthüllungen führt sie in uneitler Weise auf ihn zurück. Er war es, der sie auf den problematischen Einfluss von Facebook auf Minderjährige aufmerksam machte – ein Thema, das vor allem in den Vereinigten Staaten die Debatten über Facebook bestimmen würde.
Transparenz und Aufklärung statt Zensur
Haugen konzentriert sich in ihren Ausführungen auf das, was sie am besten versteht: Das ist vor allem das in Facebooks Algorithmus verschlüsselte Belohnungssystem der Plattform, das Hass befördert und vor allem in den ärmsten und fragilsten Regionen der Welt verheerenden Schaden anrichtete. Der wichtigste Beitrag ihres Buches geht ohnehin weit über den Inhalt der „Facebook Papers“ hinaus. Sie zeichnet das plastische Bild eines für die Öffentlichkeit kaum zu greifenden Unternehmens. Ein Unternehmen, das von Betriebsblindheit, einem sturen Blick auf messbare Daten und von einem verklärten Idealismus des liberalen Internets geprägt ist. Mit der Mär der bedrohten Meinungsfreiheit, die Social-Media-Konzerne gerne verbreiten, räumt Haugen auf: Es gehe gar nicht um Zensur, sondern die Lösung für die Probleme seien Transparenz und Aufklärung.
Trotz allem, was sie bei Facebook und davor erlebt hat, ist Haugen keine Zynikerin. Sie glaubt an eine Zukunft, in der die sozialen Netzwerke den Menschen dienen. Sie hat gezeigt, dass ein entschiedener Einzelner einen Giganten wie Facebook ins Wanken bringen kann. Doch fast zwei Jahre nach ihrem Coming-out heißt Facebook zwar Meta, nachhaltig geändert haben dürfte sich aber wenig. Mark Zuckerberg regiert noch immer als Alleinherrscher, und Metas Aktienkurs ist nach dem historischen Tief wieder fast dort, wo er vorher war. Vielleicht kommt ihr Buch gerade deshalb zur rechten Zeit.
Frances Haugen: „Die Wahrheit über Facebook“ Aus dem Englischen von Karsten Petersen und Anja Lerz. Econ Verlag, Berlin 2023. 512 S., geb., 25,99 Euro.