So manche Familie hat Geheimnisse im Keller. Im Falle der Familie Cartier ist das ganz wörtlich gemeint, denn Francesca Cartier Brickells Buch „Die Cartiers“, in dem sie den Ursprüngen des Juwelierimperiums nachspürt, beginnt mit einem Gang ins Gewölbe. Zum neunzigsten Geburtstag ihres Großvaters Jean-Jacques Cartier erkundete sie dessen Weinlager auf der Suche nach Champagner, fand dort aber einen verstaubten Koffer mit „verblichenen Aufklebern von Pariser Bahnhöfen und exotischen Hotels aus Fernost“. Im Innern verbargen sich Stapel von Briefen, säuberlich von Fäden zusammengehalten, deren ursprüngliche Farben nur noch zu ahnen waren, so stark hatte die Zeit ihnen zugesetzt. Dafür war das Geschriebene noch gut lesbar. Es erzählte vom Glamour und Luxus vergangener Jahrzehnte, aber auch von Schicksalsschlägen und den Ängsten der Cartier-Brüder, die sie per Post mit ihren Familienmitgliedern teilten.
Dieser Koffer mit seinen Briefstapeln war der Auslöser einer langen Recherche. Die Enkelin des letzten Juweliers der Cartier-Familie begann, die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Und da sich Familie und Unternehmen nicht voneinander trennen lassen, erzählt ihr Buch zugleich vom Aufstieg eines Handwerksgehilfen im neunzehnten Jahrhundert, der sein Geschäft erst zum kleinen Pariser Familienbetrieb ausbaute und bald Europas gekrönte Häupter belieferte.
Exkurse zum Stil der verschiedenen Epochen
Der Name Cartier ist zum Synonym für sehr schönen, sehr teuren Schmuck geworden: Marilyn Monroe hauchte den Namen im Song „Diamonds Are a Girl’s Best Friend“, Tallulah Bankhead opferte in Hitchcocks „Das Rettungsboot“ mit Märtyrerinnengeste ihr Brillantenarmband als Fischköder („We have Cartier“), und in „Ocean’s 8“ versuchen acht Diebinnen, Anne Hathaway ein teures Collier zu klauen – natürlich von Cartier.
Brickell zeichnet den langen Weg zu solchem Ruhm ausführlich nach, immer wieder bringt sie Exkurse zum Stil der verschiedenen Epochen und zu einzelnen Schmuckstücken (wie der berühmten Tank-Uhr oder dem Panther als Motiv an Broschen und Armbändern), und am Ende kommen noch einmal mehr als hundert Seiten mit bibliographischen Verweisen, Register und Zeittafeln hinzu.
Unterhaltsame Anekdoten
Brickell, die in Oxford englische Literatur studierte und heute als Finanzanalystin arbeitet, liefert eine fast schon romanhaft verdichtete Erzählung der Lebensläufe der Cartier-Generationen. Sie schaut auf die strukturellen Aspekte des Handels mit edlen Steinen und Metallen und verwebt zeitgeschichtliche, politische und wirtschaftliche Hintergründe in den Erzählfluss. Dabei lernt man, wenn es etwa um Jacques’ Reise 1911 nach Indien geht, manches über das unterschiedliche Stilempfinden indischer und europäischer Adelshäuser: „In Paris und London trugen die Damen die Schmuckstücke, im Osten kauften die Männer sie für sich selbst. Und sie wollten keine dezenten Armreife, keine femininen Halsketten oder winzige diamantbesetzte Cocktailuhren. Sie wollten Juwelen, die zu einem Prinzen passten.“ Darüber hinaus erfährt man, wieso Perlen aus dem Persischen Golf bei Cartier besonders begehrt waren: „Seit der Eröffnung der südafrikanischen Diamantminen war der Preis für Perlen im Vergleich zu Diamanten in die Höhe geschossen, da sie nun deutlich seltener waren.“
Natürlich strickt das Buch weiter am Ruf der Marke, erzählt es doch in unterhaltsamen Anekdoten, mit allerlei Seitenblicken auf prominente Klienten, von Glamour, Glitzer und Drama. Neben den Briefen zog die Autorin für ihre Recherche Artikel und Bücher über frühere Kunden heran, machte ehemalige Angestellte aus Cartier-Filialen ausfindig und befragte ihren Großvater Jean-Jacques Cartier, der zur vierten Generation des Unternehmens gehörte und eben der Letzte seiner Generation war, der eine Filiale leitete, ehe die Firma in den Siebzigerjahren verkauft wurde.
In den vier chronologisch gegliederten Teilen, die mit den Anfängen des Unternehmens 1819 in Paris beginnen, finden sich immer wieder Jean-Jacques’ Erinnerungen, gerahmt und kursiv gesetzt als Einschub – als hätte er handschriftlich noch etwas in der Erzählung der Enkelin ergänzen wollen. Mal berichtet er, dass sein Vater ihn einen Sommer lang im Pferdestall arbeiten ließ – „Wer einmal gesehen hat, wie viel Arbeit hinter einer Sache steckt, der weiß sie auch eher zu würdigen“ –, mal verrät er, wie diskret die Verkäufer vorgehen mussten, um auch die Geschenke für die Affären ihrer Klienten vor deren Ehefrauen geheim zu halten: „Statt nur einer Kundenkarte für den Mann, der den Schmuck kaufte, gab es auch noch Extrakarten für die Empfängerinnen. Dadurch wollte man vermeiden, dass sich die Verkäufer verplapperten.“ Wer viel Geld für Geschmeide ausgab, kaufte die Diskretion gleich mit.
Die Zeiten aber, in denen Hollywoodstars wie Elizabeth Taylor noch regelmäßig zum Schmuckeinkauf bei Cartier vorfuhren und sich in New York am Schaufenster Schlangen von Schaulustigen bildeten, die einen Blick auf den Diamanten erhaschen wollten, den die Filmdiva erworben hatte, sind vorbei. Wer heute über den roten Teppich läuft, trägt Ketten und Ohrgehänge, die vom Juwelier geliehen wurden. Entsprechend konsequent beendet Brickell ihre Abhandlung mit dem Ausstieg der Gründerfamilie aus dem Geschäft und dem Verkauf von Cartier an ein Syndikat 1974 – und so bleibt „Die Cartiers“ ein Rückblick auf eine Welt, die es nicht mehr gibt.
Francesca Cartier Brickell: „Die Cartiers“. Eine Familie und ihr Imperium. Aus dem Englischen von Frank Sievers. Insel Verlag, Berlin 2023. 700 S., Abb., geb., 34,– €.