Herr Präsident, am Mittwoch in den frühen Morgenstunden haben Unbekannte zwei Molotowcocktails auf eine Synagoge in Berlin geworfen. Glücklicherweise wurde niemand verletzt und das Gebäude nicht beschädigt. Wie bedroht sind Juden in Deutschland?
Dank der Sicherheitsmaßnahmen durch die Behörden sind Juden gut geschützt. Aber in einigen Stadtvierteln in München, Frankfurt, insbesondere aber in Berlin ist es nicht ohne Weiteres möglich, als Jude offen erkennbar auf der Straße zu laufen. In Neukölln würde ich mit einem Davidstern um den Hals nicht spazieren gehen, genauso wenig mit einer Kippa auf dem Kopf.
Müssen Juden, die eine Kippa tragen, mit körperlichen Angriffen rechnen?
Das passiert glücklicherweise selten, sie müssen aber immer damit rechnen, dass man sie anpöbelt, möglicherweise bespuckt. Und aus Worten folgen Taten. Wir haben ja auch schon körperliche Angriffe erlebt. All das ist nichts Neues. Im Februar 2015, ich war neu im Amt, fuhr ich nach Berlin wegen eines Jugendkongresses des Zentralrats. Kurz davor hatte ich einem Interview gesagt, dass ich jüdischen Jugendlichen raten würde, in der Großstadt über die Kippa am besten noch ein Käppi zu ziehen, also nicht mit der Kippa offen herumzulaufen. Das war damals schon eine Binsenweisheit in jüdischen Kreisen. Es führte aber zu einem öffentlichen Aufschrei. Eine Mitarbeiterin rief mich im Auto an und fragte mich, ob ich wüsste, was ich da losgetreten hätte. Das hat mich völlig irritiert, weil es in jüdischen Kreisen eben schon damals selbstverständlich war, die Kippa zu verstecken. Leider.
Sie sind nun seit fast zehn Jahren Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Hat die Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland seitdem zugenommen?
Ja, sie hat zugenommen, denn der Antisemitismus im Land hat insgesamt zugenommen. Aber wir müssen genau hinsehen. Was mich persönlich positiv überrascht hat, war die Zeit nach der Migrationswelle 2015. Ich hatte damals erwartet, dass es viel mehr antisemitische Vorfälle geben würde. Diese Erfahrung haben wir nicht gemacht. Es fällt aber auf, dass wir im Moment erheblich mehr Zulauf zu den palästinensischen Demonstrationen in Deutschland haben. Ich habe den Eindruck, dass ein Teil der Menschen, die ins Land gekommen sind und sich zunächst unauffällig verhalten haben, nun bereit ist, auf die Straße zu gehen und auch gewalttätig zu werden.
Gibt es in Deutschland lebende Juden, die erwägen, das Land zu verlassen?
Es gibt immer mal wieder Menschen, die aus religiösen Gründen nach Israel ziehen, aber im Moment sehe ich niemanden, der Deutschland wegen des Antisemitismus verlassen will. Anders ist das in Frankreich. Das hängt auch mit der Geschichte des Landes zusammen und der Zuwanderung aus den Maghreb-Staaten. Allerdings sehe ich auch in Deutschland eine Veränderung, die auffällt. Charlotte Knobloch hat vor Jahren einmal gesagt, sie habe immer auf gepackten Koffern gesessen, aber nun seien sie ausgepackt. Ich habe schon einige Male gesagt: Heute sind die Koffer zwar ausgepackt, aber der ein oder andere schaut mal nach, wo er sie hingestellt hat.
Nach den Gräueltaten der Hamas haben mehrere deutsche Städte propalästinensische Demonstrationen verboten, Frankfurt, München und Berlin zum Beispiel. In Frankfurt hat das Verwaltungsgericht dieses Verbot zunächst aufgehoben, bevor der Verwaltungsgerichtshof in Kassel es bestätigt hat. Halten Sie solche Verbote für angemessen?