Auch ein Politiker kann eine Institution sein. Wolfgang Schäuble war eine solche. Pessimisten sagen, es gebe leider immer weniger davon. Optimisten sagen, das sei schon immer die Ausnahme gewesen. Und wäre es denn besser, wenn Personen ihre Institutionen hervorbrächten, und nicht umgekehrt die Institutionen die Politiker? Derzeit sieht es in westlichen Demokratien so aus, als träten die Institutionen allzu sehr hinter Persönlichkeiten und solchen zurück, die sich dafür halten. Das wird als Gefahr wahrgenommen. Zu Recht.
Demokratien brauchen allerdings Politiker, die ihre Institutionen verkörpern. Schäuble war gerade deshalb, nicht nur wegen seiner langen Zeit als Bundestagsabgeordneter und nicht nur wegen seiner tragischen Verletzlichkeit nach einem Attentat, ein Phänomen. Er konnte wie kaum ein anderer beides verbinden: Welches Amt ihm auch übertragen wurde, man wusste, dass er daraus kein Schaustück zur Profilierung machen würde, sondern hinter Größe und Zweck seiner Aufgabe im Sinne der Verfassungstraditionen zurücktreten würde.
Das allerdings nicht ohne den Ehrgeiz, brillieren zu wollen. So gab es zwar zwei christlich-demokratische Kanzler über ihm, aber neben Helmut Kohl und Angela Merkel gab es immer den unersetzlichen Wolfgang Schäuble.
Die Grundlage dafür war sein Ethos als Parlamentarier. Der Bundestag war Anfang und Ende der Karriere des CDU-Politikers. Dient es vielen Politikern gern als Sprungbrett für die Exekutive, blieb das Parlament für Schäuble die Herzkammer der Demokratie. Das verlieh ihm Unabhängigkeit und ließ sein Talent zum Tragen kommen, ungeduldig Grenzen zu testen, ohne Grenzen einzureißen. Schäuble als Institution, dazu haben ihn auch seine Tabubrüche und seine bisweilen grimmigen bis humorvollen Provokationen gemacht.
Was er sagte, musste gesagt werden
Sie dienten ihm nie zur Systemkritik, selten waren sie Selbstzweck, oft sollten sie aufrütteln, um verfahrene Situationen aufzulösen und neue Wege zu weisen. Das unterscheidet diese Art von Grenzüberschreitung von drittrangigen Provokateuren, die Institutionen missachten oder, schlimmer, entwürdigen wollen. Auch hier stand Schäuble für das Maß und die Mitte: Wer demokratische Institutionen pflegen will, muss sie kraft seiner Persönlichkeit lebendig halten, was durchaus auch heißen kann: polarisieren. Zuletzt tat das Schäuble noch einmal im Grundsätzlichen: Landesverteidigung, Schuldenbremse, Arbeitsethos. Was er sagte, musste gesagt werden.
Gemeinhin wird im bundesrepublikanischen Machtgefüge dem Kanzler eine solch dominierende Rolle zugeschrieben. Meist sind damit allerdings Erwartungen verbunden, die er nicht erfüllen kann. Schäuble musste mit dem Etikett des ewigen „zweiten Mannes“, des „Kronprinzen“, leben, Worte, die so gar nicht zu seiner republikanischen Staatsauffassung passen wollen. Dass er nicht Regierungschef geworden ist, ein Amt, das mehrmals auf ihn zugelaufen wäre, mag ihm als Schwäche oder mangelnder Biss ausgelegt werden. Vieles hat dazu beigetragen. Der Grund dürfte aber vor allem in Loyalität zu suchen sein, die ihn davor zurückschrecken ließ, sich mit letzter Konsequenz für den Besseren zu halten. Weder Kohl noch Merkel fiel er in den Rücken, obwohl es Gelegenheiten und Aufforderungen dazu gab. Die Stärke des Zweitbesten besteht darin, wie Schäuble einmal sagte, „Führung zu ertragen“.
Er wird uns fehlen
Solche Eigenschaften, überhaupt aber Persönlichkeit, Partei und Profil haben ihm die Zuschreibung als „Konservativer“ eingetragen – ausnahmsweise für deutsche Verhältnisse mit einem ehrfürchtigen Unterton. Einerseits trifft die Charakterisierung unzweifelhaft die Welt eines Politikers, der in der Wiedervereinigung, in Europa, in Krisen aller Art, aber auch im Alltag seines politischen Wirkens die demokratische und wirtschaftliche Ordnung bewahren wollte, die Deutschland nicht, wie mancher „Konservative“ meint, schwach und dekadent zu machen droht, sondern so lebenswert hat werden lassen wie nie zuvor.
Andererseits passt der „konservative“ Schäuble nicht zu seiner liberalen badischen Heimat, die es gern mit dem Grundsatz hält: leben und leben lassen. Darin, also zwischen liberalem Geist und konservativen Einstellungen, unüberbrückbare Widersprüche zu sehen ist seit Jahren, fast möchte man sagen: seit jener ideologisch aufgeladenen Zeit, da Schäuble zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, einer der größten Defekte im politischen Diskurs der Bundesrepublik. Andere sind hinzugekommen, gemessen daran ist die Bundesrepublik aber immer noch ein Hort der Stabilität. Verantwortlich dafür sind die viel geschmähten Politiker, die selten ohne Fehl und Tadel sind, aber oft weit besser als ihr Ruf. Nur selten reicht es allerdings zur Institution. Ohne sie aber geht es nicht. Wolfgang Schäuble wird uns fehlen.