Einer der prominentesten Ukrainer in russischer Gefangenschaft ist frei: Nariman Dscheljal. Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitagabend mitteilte, ist Dscheljal, der stellvertretende Vorsitzende des Medschlis, der Vertretung der Krimtataren, unter zehn Zivilisten, die das Land unter Vermittlung des Vatikans im Rahmen eines Austauschs habe befreien können. Gegen wen, blieb zunächst unklar; in Moskau wurde zu dem neuen Austausch nichts mitgeteilt. Dscheljals Anwalt Nikolaj Polosow bestätigte der F.A.Z. am Freitagabend, dass der Gefangene frei und nicht mehr in Russland sei.
Der 44 Jahre alte Journalist und Politikwissenschaftler wurde wie viele Krimtataren in der Verbannung in Usbekistan geboren. Als Kind kehrte er mit seiner Familie auf die Krim zurückkehren, die Heimat der muslimischen Minderheit. Dscheljal blieb auch nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 auf der ukrainischen Halbinsel und war dort bald der letzte freie Repräsentant des Medschlis. Er trotzte Festnahmen und Forderungen, sich vom „extremistischen“ Medschlis loszusagen. Der F.A.Z. sagte Dscheljal 2018 auf der Krim, er bleibe Mitglied des Gremiums, bis ihn die Versammlung der Krimtataren abberufe. Im August 2021 besuchte Dscheljal in Kiew den ersten Gipfel der „Krim-Plattform“ der ukrainischen Regierung. Kaum zurück in der Heimat, wurde er festgenommen, von Maskierten, die ihm früh am Morgen zu Hause einen Sack über den Kopf stülpten. Zusammen mit ihm wurden die Cousins Assan und Asis Achtjemow abgeführt. Im September 2022 wurden die drei in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, zu langen Haftstrafen verurteilt: Dscheljal erhielt 17 Jahre, Assan und Asis Achtjemow 15 respektive 13 Jahre Haft. Den dreien wurde „Sabotage“ vorgeworfen; sie hätten im Auftrag des ukrainischen Verteidigungsministeriums im August 2021 einen Sprengstoffanschlag auf eine Gasleistung nahe Simferopol verübt.
Haft in sibirischem Gefängnis
Dutzende Krimtataren sind in den vergangenen Jahren unter diversen Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt worden, die vielfach noch länger sind als die gegen Dscheljal und die Cousins. Anwälte und Menschenrechtsschützer berichten aus diesen Verfahren von systematischer Misshandlung und Folter, auch aus dem gegen Dscheljal und die Cousins Achtjemow, die alle Anschuldigungen als politisch motiviert zurückwiesen. Dscheljal sagte im Prozess, das erste, was er nach seiner Verschleppung Anfang September 2021 gefragt worden sei, als er mit einem Sack über dem Kopf in einem Keller verhört wurde, obwohl er noch als „Zeuge“ galt, sei gewesen, warum er zur „Krim-Plattform“ gefahren sei. Diese Reise sei der Anlass für seine Festnahme gewesen. Die Cousins berichteten, sie hätten nach Folter mit Elektroschocks, Schlägen, Todesdrohungen und einer Scheinhinrichtung „Sabotageakte“ auf ukrainisches Geheiß zugegeben. Ihre „Geständnisse“ widerriefen die Cousins. Menschenrechtler stuften alle drei als politische Gefangene ein.
Dscheljal wurde zuletzt im Gefängnis im südsibirischen Minussinsk festgehalten. Im vergangenen Frühjahr berichtete sein Anwalt Polosow der F.A.Z., die Familie – Dscheljal hat vier Kinder – dürfe den Gefangenen einmal im Jahr für drei Tage besuchen, aber das sei bisher nicht gewährt worden. Dscheljal habe Probleme mit Beinen und Bandscheiben, weil er in Haft in Simferopol 16 Stunden am Tag auf den Beinen gehalten worden sei, und dürfte nur noch über Persönliches schreiben. Anfang 2023 hatte Dscheljal in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. appelliert, von Russland zu fordern, alle politischen Gefangenen aus der Ukraine freizulassen. Darunter sind nach Angaben aus Kiew mehr als 300 Krimtataren. Die Cousins Achtjemow bleiben weiter in russischer Haft.